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Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat am Freitag, 1. April 2016, zum Tode Hans-Dietrich Genschers dessen Ehefrau und allen Angehörigen im Namen des Deutschen Bundestages sein herzliches Beileid ausgesprochen. Am Donnerstag, 31. März, war Hans-Dietrich Genscher im Alter von 89 Jahren gestorben. „Mit Hans-Dietrich Genscher verlieren wir einen der großen Liberalen unserer Zeit, eine herausragende Persönlichkeit, die eine ganze Epoche deutscher und europäischer Geschichte entscheidend mitgestaltet hat, als Bundestagsabgeordneter, FDP-Vorsitzender, Innen- und Außenminister sowie als langjähriger Vizekanzler“, sagte Lammert.
„Den guten Lotsen erkennt man an der ruhigen Hand und nicht an der lautesten Stimme“, habe Hans-Dietrich Genscher einmal postuliert und damit treffend seinen eigenen umsichtigen Politikstil charakterisiert, der ihn international zum Garanten einer verlässlichen und um Ausgleich bemühten deutschen Diplomatie machte, so Lammert weiter.
Hans-Dietrich Genscher habe die Außenpolitik der Bundesrepublik 18 Jahre maßgeblich geprägt, dabei großes Vertrauen in unser Land aufgebaut und so den Weg zur deutschen Einheit mitbereitet. In diesen historischen Monaten habe Genscher hohe Sensibilität und entschlossene Tatkraft im entscheidenden Moment bewiesen.
Seine Ansprache vom Balkon der Prager Botschaft werde für immer unvergessen bleiben, sie gehöre zum historischen Gedächtnis unseres Landes. Hans-Dietrich Genscher habe sich um unser Land, um die Demokratie im zusammenwachsenden Europa und um den Frieden in der Welt verdient gemacht. „Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren“, sagte Lammert.
Hans-Dietrich Genscher galt als der „ewige Außenminister“ und Architekt Europas: Fast zwei Jahrzehnte prägte er als oberster Diplomat die deutsche Außenpolitik – zunächst in der sozialliberalen Koalition, dann unter Bundeskanzler Helmut Kohl. 33 Jahre war der FDP-Politiker zudem Mitglied des Bundestages. Höhepunkt seines auf Abrüstung, Ausgleich und Entspannung abzielenden Wirkens war die deutsche Wiedervereinigung. Im September 1989 war er es, der den DDR-Flüchtlingen in Prag die Nachricht überbrachte, dass sie in den Westen ausreisen durften.
Seine wohl berühmteste Rede begann mit einem unvollendeten Satz: „Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise….“. Hans-Dietrich Genscher hielt sie am 30. September 1989 auf dem Balkon des Palais Lobkowitz, dem Sitz der deutschen Botschaft in Prag. Dorthin hatten sich seit August 1989 mehr als 4500 DDR-Bürger geflüchtet.
Erst nach wochenlangen Verhandlungen konnte der deutsche Außenminister den im Park der Botschaft ausharrenden Flüchtlingen die erlösende Nachricht der Ausreiseerlaubnis bringen. Sie ging im Jubel unter. Für ihn sei dies der „emotionalste Moment“ seines politischen Lebens gewesen, sagte Genscher später über seine historische „Balkon-Rede“. Und zugleich ahnte er: „Das ist mehr als die Freiheit für die deutschen dort in der Botschaft. Das ist der Weg zur Einheit.“
Selbst ging es dem damals 62-Jährigen in dieser politisch so entscheidenden Zeit alles andere als gut. Bereits im Juli 1989 hatte er einen Herzinfarkt erlitten. Während seiner Rede in Prag kämpfte er erneut mit schweren Herzrhythmusstörungen, das offenbarte Genscher Jahre später. „Ich war froh, dass ich mich an der Steinmauer des Balkons festhalten konnte.“
Gesundheitliche Probleme waren für den am 21. März 1927 in Reideburg bei Halle an der Saale als Sohn eines Rechtsanwalts geborenen Genscher nichts Neues: Nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, in den der Abiturient als Flakhelfer eingezogen wurde, erkrankte er 1946 an Tuberkulose.
Insgesamt dreieinhalb Jahre verbrachte Genscher bis 1957 in Krankenhäusern und Lungenheilstätten. Es sei die „große Zäsur“ seines Lebens gewesen, sagte er einmal. Dennoch studierte er nach dem erfolgreich abgelegten Ergänzungsabitur Rechtswissenschaften – zunächst in Halle, später in Leipzig, wo er 1949 auch die Erste Juristische Staatsprüfung ablegte. 1952 übersiedelte Genscher in den Westen nach Bremen. 1954 legte er schließlich in Hamburg die Zweite Juristische Staatsprüfung ab.
Politisch aktiv wurde Genscher bereits 1946 in der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD), 1952 trat er der Freien Demokratischen Partei (FDP) bei. Sein frühes politisches Engagement erläuterte er einmal in einem Interview: „Etwas dafür zu tun, dass Nazidiktatur und Krieg nicht wieder geschehen, dafür zu sorgen, dass das Land wieder zusammenkommt, das waren meine Motive.“
Während er beruflich als Rechtsanwalt in einer Bremer Anwaltssozietät Fuß fasste, engagierte er sich bei den Jungdemokraten in Bremen. 1956 wechselte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion nach Bonn, wo er ab 1959 als Geschäftsführer der Fraktion, ab 1962 auch als Bundesgeschäftsführer der FDP tätig war.
Genschers parlamentarische Karriere begann 1965, als er selbst als Abgeordneter für den Wahlkreis Wuppertal in den Bundestag einzog. Zum Parlamentarischen Geschäftsführer gewählt, profilierte er sich während der von Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger geführten Großen Koalition als wichtigster Sprecher der Opposition. In der ersten sozialliberalen Koalition übernahm der Sachse das Innenressort und bewies Gespür für Zukunftsthemen: Er erkannte die Bedeutung des Umweltschutzes und ließ das erste Bundesimmissionsschutz- und das Abwasserabgabengesetz ausarbeiten. Zudem machte sich Genscher um Reformen im Bundeskriminalamt verdient.
In die Zeit als Innenminister fiel aber auch der „Tiefpunkt“ seiner politischen Laufbahn: Während der Olympischen Spiele 1972 in München entführten palästinensische Terroristen israelische Sportler. Genscher, der zum Verhandlungsteam auf deutscher Seite gehörte, bot sich als Ersatzgeisel an. Dass Juden wieder in Deutschland umgebracht werden sollten, sei für ihn undenkbar gewesen, sagte er später über sein Motiv. Doch die Geiselnehmer lehnten ab; die Befreiungsaktion missglückte und elf Israelis starben.
Als er 1974 Walter Scheel nicht nur als FDP-Chef, sondern auch als Außenminister ablöste, begleitete den Liberalen erhebliche Skepsis. Zwar hatte er sich den Ruf eines durchsetzungsfähigen Organisators erworben, doch entsprach er insbesondere aufgrund seiner mangelnden Englischkenntnisse in den Augen mancher in der eigenen Partei nicht dem Idealtypus eines Diplomaten. Genscher begegnete solcher Kritik selbstbewusst: Er habe sich, so sagte er, um das Amt des Außenministers, nicht um das des Dolmetschers beworben.
18 Jahre später waren solche Zweifel längst vergessen und Genscher der dienstälteste und bekannteste Außenminister der Welt. Als Comicfigur „Genschman“, mit dem das Satiremagazin „Titanic“ den Politiker geadelt hatte, genoss der Liberale fast schon Kultstatus. Ganz anders war es um sein Ansehen jedoch zehn Jahre vorher bestellt: Der Koalitionswechsel der FDP von der SPD zur Union im Jahr 1982, den Genscher vorangetrieben hatte, machten den FDP-Vorsitzenden aus Sicht vieler Liberaler zum Verräter. Prominente Vertreter des linken Flügels wie Ingrid Matthäus-Maier und Günter Verheugen verließen aus Protest gegen die „Wende“ die Partei.
Als Deutschlands Chefdiplomat erwies Genscher sich als geschickter Anwalt des Ausgleichs zwischen Ost und West. Durch den KSZE-Prozess (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und die Abrüstungsinitiativen in den 1980er-Jahren war er in der Lage seine eigene Entspannungspolitik entwickeln. Als erster Außenminister eines Nato-Staats sprach sich Genscher 1983 öffentlich für ein Gewaltverzichtsabkommen aus. Auch gehörte er zu den ersten westlichen Politikern, die die außen- und deutschlandpolitischen Chancen der auf „Glasnost“ und „Perestroika“ zielenden Reformpolitik des sowjetischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow erkannte.
Es gehört zu seinen großen Verdiensten, die von der Regierung Brandt/Scheel begonnene Ostpolitik fortgesetzt zu haben: Gegen Widerstände des Koalitionspartners CDU/CSU warb Genscher beharrlich für einen Ausgleich mit den östlichen Nachbarn. Das brachte ihm nicht nur Anerkennung ein: In Washington und London wurde seine Vermittlungspolitik zunächst als Abwendung vom Westen verstanden und als „Genscherismus“ geschmäht.
Gemeinsam mit Bundeskanzler Kohl sah der als hochbegabter Taktiker geltende Genscher im Herbst 1989 die Chance für einen Durchbruch in der „deutschen Frage“. Die Unterzeichnung des sogenannten „2+4“-Vertrags 1990, der die endgültige innere und äußere Souveränität des vereinten Deutschlands herstellte, gehörte zu den größten Triumphen des Politikers, den seine Mitarbeiter im Auswärtigen Amt liebevoll-spöttisch „Minister des Alleräußersten“ nannten.
Seine Karriere als oberster Diplomat Deutschlands beendete Genscher kurz nach seinem 65. Geburtstag, als er um seine Entlassung zum 17. Mai 1992 bat. Das Bundestagsmandat hingegen behielt der Liberale. Erst im September 1998 schied er nach 33 Jahren aus dem Parlament aus. Genscher blieb dennoch politisch aktiv: Er hielt Vorträge, übernahm eine Honorarprofessur oder schrieb Zeitungskolumnen.
Das Wort des FDP-Ehrenvorsitzenden, zu dem er 1992 ernannt worden war, behielt stets Gewicht – nicht nur in der eigenen Partei. Seine diplomatischen Fähigkeiten stellte Genscher 2013 erneut unter Beweis: Dass der russische Präsident Wladimir Putin den 2003 festgenommenen und 2005 verurteilten ehemaligen Oligarchen und Kreml-Kritiker Michail Chodorkowskij begnadigte und nach Deutschland ausreisen ließ, gilt auch als Erfolg Genschers, der an der Freilassung hinter den Kulissen intensiv mitwirkte.
Als „Architekt des neuen Europa“ erhielt Genscher 1991/1992 für seine Bemühungen um die Überwindung des Ost-West-Konflikts und den Frieden in Europa zahlreiche Ehrungen und Preise, darunter die Großen Verdienstkreuze von Polen und Ungarn. Verheiratet war er seit 1969 in zweiter Ehe mit seiner Frau Barbara (geborene Schmidt). Mit ihr lebte der an einer schweren Herzkrankheit leidende Genscher in Wachtberg-Pech bei Bonn. (sas/01.04.2016)