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Weg von der Minutenpflege hin zu einer veränderten, ganzheitlichen Betrachtung pflegebedürftiger Menschen: Die Fraktionen des Deutschen Bundestags haben sich zu einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff bekannt, der den Vorschlägen des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftig- keitsbegriffs vom Januar 2009 entspricht. Dies wurde in der Debatte am Freitag, 25. März 2011, zu einem Antrag der SPD zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (17/2480) deutlich.
Die Oppositionsfraktionen forderten die schwarz-gelbe Koalition zu einem schnellen Handeln auf. Seit mehr als zwei Jahren lägen die Vorschläge des Beirats vor, sagte die stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit der SPD-Fraktion, Hilde Mattheis.
Zudem sei schon lange klar, dass der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff "zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch ausgerichtet“ sei und zu Ungerechtigkeiten bei der Einschätzung von Menschen mit Beeinträchtigungen führe. So würden etwa die Bedürfnisse von Kindern oder Menschen mit kognitiven oder psychischen Erkrankungen nicht genügend berücksichtigt.
Mattheis führte aus, es sei ein "Paradigmenwechsel“ nötig hin zu einer "ganzheitlichen Sicht“ auf die Pflege. Im Abschlussbericht des Beirats hätten Experten ganz unterschiedlicher Ausrichtung in "großer Einheit“ Vorschläge gemacht, auf die Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler (FDP) aufbauen könne.
Sie frage sich, ob das "zu viel Konsens“ für den Minister sei und er lieber auf "einzelne Lobbygruppen“ hören wolle.
Auch Kathrin Senger-Schäfer, Gesundheitsexpertin der Linksfraktion, warf Rösler Untätigkeit vor. Noch immer gelte in der Pflege das Motto "still, satt sauber“; dies sei "eine Katastrophe“. Es werde billigend in Kauf genommen, dass viele hilfsbedürftige Menschen nicht einmal Pflegestufe 1 bekämen und stattdessen von ihren zumeist weiblichen Angehörigen versorgt würden, die völlig überlastet seien und ihrerseits ein hohes Risiko hätten, selbst pflegebedürftig zu werden.
Es sei gut, dass Rösler das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege erklärt habe - in der Praxis aber würde etwa bei der Diskussion um eine Finanzierung der Pflegeversicherung von der Koalition angesichts anstehender Landtagswahlen "der Ball so lange flach gehalten“, bis "alles in trockenen Tüchern“ sei.
Die Sprecherin der Grünen-Fraktion für Pflegepolitik, Elisabeth Scharfenberg, es gebe wenig im Bereich der Pflegepolitik, bei dem die Fraktionen sich so einig seien wie bei der Notwendigkeit eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Man müsse "endlich weg von der körperorientierten Ausrichtung“ hin dazu, pflegebedürftigen Menschen eine "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ zu ermöglichen.
Wer aber mehr Leistungsgerechtigkeit wolle, müsse dürfe nicht wie Rösler eine "Strategie des Nichtstuns“ verfolgen, sondern müsse "endlich handeln“. Einzelne FDP-Abgeordnete hätten bereits ausgeschlossen, dass es bis zum Ende der Legislatur in der Pflegeversicherung Beitragserhöhungen geben werde - dabei seien solche Erhöhungen schon allein deshalb nötig, um zu verhindern, dass die Pflegeversicherung im Jahr 2014 in ein Defizit rutsche.
Die Vertreter der Koalition teilten zwar den Wunsch der Opposition nach einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, kündigten aber an, sich bei der Umsetzung genügend Zeit lassen zu wollen. Der CDU-Gesundheitspolitiker Willi Zylajew nutzte die Debatte zu einer Abrechnung mit der SPD: Diese stehe immer für "Ruhephasen in der Pflege“, wenn sie das Gesundheitsministerium besetze, während sich christlich-liberale Koalitionen in den vergangenen 20 Jahren immer um Fortschritte verdient gemacht hätten.
Er sei dankbar für das Votum des Beirats, in dem sich Krankenkassen, Leistungserbringer, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Experten auf Empfehlungen geeinigt hätten. Zylajew kündigte an, die Koalition werde den neuen Begriff in dieser Wahlperiode einführen. Allein die Aktivitäten im Kabinett bewiesen, dass man einen ressortübergreifenden "Pflegepakt“ geschlossen habe.
Auch Christine Aschenberg-Dugnus, Gesundheitspolitikerin der FDP, betonte, die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) habe in der Pflege ebenso wie beim Thema der Unabhängigen Patientenberatung eine "Baustelle hinterlassen“, um die sich die Koalition nun kümmere.
Die Pflege dürfe nicht zu einer "rein betriebswirtschaftlich getakteten Veranstaltung“ werden, man müsse aber darüber sprechen müssen, wie die "erheblichen Auswirkungen“, die ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff auf das "Sozialversicherungssystem insgesamt“ habe, finanziert werden sollen. (suk)