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Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neuregelung des Wahlrechts in Deutschland hat am Donnerstag, 30. Juni 2011 erneut das Bundestagsplenum befasst. Nachdem die Abgeordneten bereits über entsprechende Vorlagen der Oppositionsfraktionen von SPD (17/5895), Die Linke (17/5896) und Bündnis 90/Die Grünen (17/4694) debattiert hatten, stand nun ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP (17/6290) in erster Lesung auf der Tagesordnung des Parlaments.
Mit der Vorlage reagieren die Abgeordneten auf ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 3. Juli 2008, in dem der Gesetzgeber verpflichtet wurde, das Wahlrecht "spätestens bis zum 30. Juni 2011“ zu reformieren. Wie die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung (Aktenzeichen 2 BvC 1/ 07, 2 BvC 7/ 07) urteilten, verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil "ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann“.
Dieser paradoxe Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen, als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.
In ihrem Gesetzentwurf schlagen die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion vor, die bisher mögliche Verbindung von Landeslisten einer Partei abzuschaffen. Damit könnten die in einem Bundesland errungenen Zweitstimmen einer Partei nicht mehr mit den in einem anderen Land erzielten Zweitstimmen verrechnet werden.
Wie die Koalitionsabgeordneten schreiben, wird durch den Verzicht auf Listenverbindungen die Häufigkeit des Auftretens des negativen Stimmgewichts "erheblich reduziert“. Ergänzt werden soll die Neuregelung der Vorlage zufolge "um eine Sitzverteilung auf der Grundlage von Sitzkontingenten der Länder, die sich nach der Anzahl der Wähler in den Ländern bestimmen“. Ist die Zahl der Zweitstimmen einer Partei, die in den 16 Bundesländern nicht zu einem Sitz geführt haben, größer als die im Bundesdurchschnitt für einen Mandat erforderliche Stimmenzahl, sollen laut Gesetzentwurf zum Ausgleich weitere Mandate vergeben werden.
In der Debatte warben Vertreter von Union und FDP für ihren Vorschlag, während Abgeordnete der drei Oppositionsfraktionen den Koalitionsentwurf scharf kritisierten. Unions-Fraktionsvize Günter Krings (CDU) räumte ein, dass die Koalition das Parlament bei diesem Thema "lange auf eine Geduldsprobe gestellt“ habe, die jetzt aber zu Ende sei.
Die Ursache des negativen Stimmgewichts sei die Verknüpfung der Landeslisten und die Lösung ihre Trennung, argumentierte Krings. Nach dem Koalitionsvorschlag sollten 598 Bundestagsmandate auf die 16 Bundesländer nach dem Kriterium der Wahlbeteiligung aufgeteilt werden. Dann würden die Mandate in jedem Bundesland entsprechend dem Wahlergebnis auf die einzelnen Parteien verteilt. Durch die Kappung blieben indes "relativ viele Reststimmen übrig“, die dann zum Ausgleich "eingesammelt werden und zusätzlich an die Landeslisten verteilt werden, die die meisten Reststimmen haben“. Dies sei kein perfekter Vorschlag, aber die beste aller diskutierten Varianten.
Der FDP-Parlamentarier Stefan Ruppert sagte, die Koalition habe lange überlegt, wie man das bewährte Wahlrecht in seinen Grundzügen erhalten könne. Diese Aufgabe sei sehr kompliziert gewesen, doch hätten Union und FDP nun eine sachgerechte Lösung gefunden: "Wir haben einen tollen Vorschlag, mit dem wir stolz vor die Öffentlichkeit treten können, und ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland hat ein gutes Wahlrecht, wenn wir diesen Gesetzentwurf beschließen.“
Dagegen kritisierte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, den Koalitionsentwurf als Vorlage zur "Absicherung eines machtpolitischen Sondervorteils in Gestalt von Überhangmandaten“. Die Koalition habe ein "dürftiges Notkonstrukt“ vorgelegt, dass den Anforderungen des Verfassungsgerichts in keiner Weise Rechnung trage. Ein Wahlgesetz, das Überhangmandate weiter absichere, werde seine Fraktion vor dem Verfassungsgericht "zur Überprüfung stellen“.
Oppermann betonte zugleich, es habe "schwerwiegende Konsequenzen“, dass die von Karlsruhe vor drei Jahren gesetzte Frist nunmehr ergebnislos ablaufe: "Wir haben im Augenblick kein Wahlrecht mehr in Deutschland, das angewendet werden kann“. In diese "groteske Situation“ habe die Koalition "den deutschen Parlamentarismus gebracht“.
Für Die Linke sagte ihre Parteivize Halina Wawzyniak ebenfalls, dass man mit Ablauf des Tages kein gültiges Wahlrecht mehr habe. Dies sei ein Skandal. Schließlich werde eine Neuregelung frühestens nach der Sommerpause beschlossen. Zudem gebe es erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Koalitionsvorlage. Der von Union und FDP geplante Reststimmenausgleich sei "so kompliziert, dass ihn tatsächlich wirklich keiner versteht“.
Auch der Parlamentarische Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck sagte, ab Mitternacht stehe Deutschland ohne Wahlrecht da. Es drohe eine Staatskrise, wenn nun Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Abstimmung etwa über die Griechenlandhilfe mit der Vertrauensfrage verbinde und dabei verliere. Zudem sei der Koalitionsentwurf keine Lösung des Problems. "Er ist verfassungswidrig, und er ist schlecht gemacht", unterstrich der Grünen-Parlamentarier. (sto)