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Das Völkerrecht soll weiterentwickelt werden, um den Spagat zwischen dem Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten und dem Anspruch auf territoriale Integrität von Staaten besser austarieren und bewältigen zu können. Angesichts zahlreicher sezessionistischer Konflikte auf dem Kontinent forderte auf Initiative der FDP-Bundestagsabgeordneten Marina Schuster die Parlamentarische Versammlung des Europarats am Dienstag, 4. Oktober 2011, bei ihrer Herbstsession in Straßburg die Vereinten Nationen auf, unter ihrer Ägide eine solche Reform des Völkerrechts von der Internationalen Kommission zu Intervention und Staatensouveränität erarbeiten zu lassen.
In einer Rede vor den Volksvertretern aus den 47 Europaratsländern zu ihrem Bericht erklärte die liberale Politikerin, es müsse klarer definiert werden, "nach welchen Kriterien die Staatengemeinschaft neue Staaten anerkennen soll. Bislang werde das "sehr unterschiedlich gehandhabt".
Hintergrund des Straßburger Vorstoßes sind diverse Auseinandersetzungen etwa um Tschetschenien, um Südossetien und Abchasien in Georgien, um den Kosovo, um Zypern oder um Transnistrien und Moldawien - Streitpunkte, die immer mal wieder im Europarat hochkochen.
All diesen auch nach vielen Jahren ungelösten Problemen ist gemeinsam, dass sie im Widerspruch zwischen Selbstbestimmungsrecht und nationaler Souveränität wurzeln. Solche Konflikte "bedrohen die Stabilität", mahnt Schuster.
Bei ihrem Auftritt vor dem Europarat-Parlament sagte Schuster, eine Reform des Völkerrechts solle verhindern, "dass der positiv besetzte Begriff der Selbstbestimmung missbraucht wird". Schließlich bestehe die Gefahr, dass Regierungen, die mit dem Argument der "Schutzverantwortung" für Minderheiten in anderen Ländern intervenieren, dies als Vorwand zur Durchsetzung bestimmter Interessen nutzen.
Es sei jedoch wiederum nicht hinzunehmen, so die deutsche Abgeordnete, dass Regierungen die Verteidigung der nationalen Integrität instrumentalisieren, "um Grundrechte und die Rechte der Opposition zu unterdrücken". Prinzipiell spricht Schusters Bericht auch von der Möglichkeit einer "rechtmäßigen Sezession".
Aus Sicht der FDP-Politikerin sollten Konflikte in erster Linie durch die Gewährleistung der Rechte nationaler Minderheiten innerhalb der jeweiligen Staaten gelöst werden. Schusters Bericht erkennt in diesem Sinne dem Europarat die Aufgabe zu, über den Menschenrechtsgerichtshof die individuellen Grundrechte der Bürger und mit Hilfe der Straßburger Minderheitencharta die kollektiven Belange solcher Bevölkerungsgruppen zu garantieren.
Die Respektierung der Urteile des Gerichtshofs und der Minderheitenkonvention bedeute zwar eine freiwillige Einschränkung nationaler Souveränität, aber so ließen sich Sezessionskonflikte vielleicht vermeiden. An die nationalen Regierungen appellierte Schuster vor den Abgeordneten des Europarats, in ihren Ländern der Minderheitencharta des Staatenbunds Geltung zu verschaffen.
Die Auseinandersetzungen im Kosovo und im Kaukasus beleuchten beispielhaft die Motive des Europarat-Parlaments für seine Initiative zur Reform des Völkerrechts. Der Kosovo versteht sich unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht als eigene Nation, während Serbien diese Region als Bestandteil seines Territoriums reklamiert.
Im Norden des Kosovo wiederum strebt die serbische Minderheit zu Belgrad. Manche europäische Regierungen erkennen den Kosovo als unabhängigen Staat an, andere tun dies nicht - so die Spanier, die ein Exempel für das Baskenland befürchten.
Die Südosseten haben sich in einer Volksabstimmung von Georgien losgesagt, doch Tiflis beansprucht diese Provinz weiterhin für sich. Russland sichert die Abspaltung Südossetiens wie Abchasiens durch Militär und erkennt beide Regionen als eigenständige Staaten an - unter dem Protest vieler Regierungen und auch des Europarat-Parlaments, die in diesem Schritt einen Bruch des Völkerrechts sehen.
Moskau wiederum verweigert den Tschetschenen eine Sezession. Zum verwirrenden Bild gehört, dass Russland Transnistrien bei dessen Abspaltungsversuchen von Moldawien Beistand gewährt.
Zu einer Reform des Völkerrechts gehört aus Sicht der Straßburger Volksvertretung vor allem eine präzise Definition des Staatsbegriffs. Nicht nur der Kosovo wirft die Frage auf, was eine Anerkennung durch diverse Regierungen politisch eigentlich bedeutet. Schuster: "Hat ein solches Dokument nur deklamatorischen Charakter?" Dem Kosovo nutzt im Übrigen die Anerkennung nur durch einen Teil der Staatengemeinschaft bislang wenig: Mitglied im Europarat kann das Land auf dieser Basis nicht werden.
Mit der Resolution des Parlaments befasst sich nun das Ministerkomitee des Europarats als Organ der 47 Außenminister, die in Straßburg in der Regel von ihren Botschaftern vertreten werden. Schuster hofft, dass die Forderung nach einer Reform des Völkerrechts in diesem höchsten Gremium des Staatenbunds ebenfalls eine Mehrheit findet.
Die FDP-Abgeordnete appelliert zudem an ihre Straßburger Kollegen, sich auch in ihren nationalen Parlamenten für dieses Anliegen stark zu machen. Letztlich ist es dann an den Regierungen der 47 Europaratsländer, bei den Vereinten Nationen für eine Weiterentwicklung des Völkerrechts einzutreten. (kos)