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Die bei der Europawahl 2009 geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel verstößt unter den gegenwärtigen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit einem am Mittwoch, 9. November 2011, verkündeten Urteil entschieden. Die der Sperrklausel zugrundliegende Vorschrift des Paragrafen 2 Absatz 7 des Europawahlgesetzes erklärte das Gericht für nichtig. Nicht beanstandet hat der Senat die von einem Beschwerdeführer gerügte Verhältniswahl auf der Grundlage „starrer“ Listen.
Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel führt jedoch nicht dazu, dass die Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2009 für ungültig erklärt und eine Neuwahl angeordnet werden müsste. Die Entscheidung erging mit fünf zu drei Stimmen, die Richter Prof. Dr. Udo di Fabio und Prof. Dr. Rudolf Mellinghoff haben ein Sondervotum abgegeben.
Die Sperrklausel führt nach Ansicht des Gerichts zu einer Ungleichgewichtung der Wählerstimmen, weil Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel scheiterten, ohne Erfolg bleiben. Zugleich werde der Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit durch die Sperrklausel beeinträchtigt.
Der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages, Thomas Strobl (CDU/CSU), betonte am 9. November, das Gericht sei der Argumentation des Wahlprüfungsausschusses und mehrerer Abgeordneter des Europaparlaments in der mündlichen Verhandlung nicht gefolgt. Der Ausschuss sei mit Ausnahme der Linksfraktion der Auffassung gewesen, dass die Sperrklausel auch weiterhin notwendig sei, um eine "übermäßige Parteienzersplitterung im Europäischen Parlament" zu vermeiden.
Bei derzeit über 160 vertretenen Parteien aus 27 Mitgliedstaaten habe der Ausschuss nicht nur die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments gefährdet gesehen, sondern auch eine Schwächung der Vertretung deutscher Interessen befürchtet.
Der Bundestag werde die Auswirkungen der Entscheidung für das Wahlrecht der deutschen Europaabgeordneten sorgfältig analysieren und geeignete Wege zur Umsetzung der Vorgaben des Gerichts beraten, heißt es in der Erklärung Strobls. Wichtig sei, dass das Gericht ausdrücklich eine Unterscheidung zwischen der Fünf-Prozent-Hürde auf europäischer Ebene und der entsprechenden Regelung für den Bundestag vorgenommen habe. Interessant sei, dass die Entscheidung "denkbar knapp" und gegen das Votum des Berichterstatters getroffen worden sei. Für eine abschließende Stellungnahme sei es noch zu früh.
"Es muss aber darauf hingewiesen wrden, dass auch die überwältigende Mehrheit der deutschen Wahlbevölkerung das derzeit bestehende Europawahlrecht als gut und richtig akzeptiert hat. Dies kann schon daran erkannt werden, dass gegen die letzte Europawahl bei fast 27 Millionen Wählerinnen und Wählern gerade einmal 54 Wahleinsprüche erhoben worden sind", betont Strobl.
In der Urteilsbegründung der Karlsruher Richter heißt es, die Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel würde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die Parlamente erleichtert und dadurch die Willensbildung dieser Parlamente erschwert, könne den Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Um die Fünf-Prozent-Hürde zu rechtfertigen, wäre es erforderlich, dass mit „einiger Wahrscheinlichkeit“ die Funktionsfähigkeit der Parlamente beeinträchtigt wird.
Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass das Europaparlament mit dem Wegfall der Sperrklausel in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werde, könne sich nicht auf „ausreichende tatsächliche Grundlagen“ stützen und berücksichtige nicht angemessen die besonderen Arbeitsbedingungen dieses Parlaments und dessen Aufgabenstellung.
Zwar sei zu erwarten, dass ohne Sperrklausel in Deutschland die Zahl der nur mit einem oder zwei Abgeordneten vertretenen Parteien zunimmt. Ohne Sperrklausel in Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europaparlament vertreten. Für das Gericht ist „nicht erkennbar“, dass dadurch die Funktionsfähigkeit des Parlaments „mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit“ beeinträchtigt würde.
Es sei nicht ersichtlich, dass bei einem Wegfall der Sperrklausel mit Abgeordneten kleiner Parteien in einer Größenordnung zu rechnen wäre, die es den vorhandenen politischen Gruppierungen im Europaparlament unmöglich machen würde, in einem geordneten parlamentarischen Prozess zu Entscheidungen zu kommen.
Aus Sicht des Gerichts besteht auf europäischer Ebene keine Interessenlage, die mit der bei der Wahl zum Deutschen Bundestag vergleichbar wäre. Das Europaparlament wähle keine Unionsregierung, die auf die fortlaufende Unterstützung des Parlaments angewiesen wäre.
Ebenso wenig sei die EU-Gesetzgebung von einer gleichbleibenden Mehrheit im Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde. Auch sei die EU-Gesetzgebung nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europaparlament abhängig.
Zur Rüge gegen die Wahl nach „starren „ Listen verweist das Gericht auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine solche Wahl verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Neue Argumente, die für die Europawahl Anlass zu einer anderen Beurteilung geben könnten, seien nicht vorgetragen worden.
Die Europawahl müsse aber nicht für ungültig erklärt werden, weil das Gericht dem Bestandsschutz der - im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des Europawahlgesetzes zusammengesetzten - Volksvertretung Vorrang gegenüber der Durchsetzung des festgestellten Wahlfehlers einräumt.
Eine Neuwahl in Deutschland würde sich störend und mit nicht abschätzbaren Folgen auf die laufende Arbeit des Europaparlaments auswirken, vor allem auf die Zusammenarbeit der Abgeordneten in den Fraktionen und Ausschüssen.
Demgegenüber sei der Wahlfehler nicht als „unerträglich“ anzusehen, da er nur einen geringen Anteil der Abgeordneten des deutschen Kontingents betreffe und die Legitimation der deutschen Abgeordneten in ihrer Gesamtheit nicht infrage stelle.
Die Richter di Fabio und Mellinghoff tragen die Entscheidung nicht mit. Sie sind der Auffassung, dass die Senatsmehrheit die Prüfungsmaßstäbe zu formelhaft anlegt und dadurch den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit politischer Parteien nicht überzeugend gewichtet. Der Senat ziehe den Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers zu eng und nehme eine mögliche Funktionsbeeinträchtigung des Europaparlaments trotz dessen gewachsener politischer Verantwortung in Kauf.
Die Sperrklausel ist nach Auffassung beider Richter sachlich gerechtfertigt, um für das deutsche Kontingent der Europaabgeordneten eine zu weitgehende Zersplitterung der im Parlament vertretenen politischen Parteien zu verhindern. (vom)