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Am Anfang stand das, was Tacita Dean einen „objektiven Zufall“ nennt. Im Jahr 2000 entdeckte die britische Künstlerin auf einem Kreuzberger Flohmarkt 36 Opernprogrammhefte aus den Jahren 1934 bis 1942. Was auf den ersten Blick als einfache Sammlung eines Opernliebhabers erscheint, erkannte sie als Zeugnis für die Ambivalenz deutscher Erinnerungskultur und verarbeitete es zu dem modernen Kunstobjekt „Die Regimentstochter“.
Ein früherer Besitzer hatte aus deren Titelseiten jeweils ein rechteckiges Stück entfernt. Warum? „Innerhalb von Sekunden ist mir bewusst geworden, dass jemand das Hakenkreuz herausgeschnitten hatte“, erzählte Dean dazu einmal im Interview. Das 36-teilige Werk ist derzeit als Leihgabe aus dem Haus der Geschichte in Bonn im Jakob-Kaiser-Haus des Deutschen Bundestages zu sehen. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert nahm die Installation im Namen des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages am Dienstag, 26. April 2016, in Empfang.
„Die Regimentstochter ist ein Kunstwerk, das die verborgenen Spuren deutscher Vergangenheit im Alltäglichen sichtbar machen möchte und gleichzeitig vom Wunsch spricht, diese Spuren zu tilgen“, erklärte die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Professor Monika Grütters, bei der Übergabe. Die „beklemmende Collage des Verschweigens, Verdrängens und auch des Vergessens“ dränge dem Betrachter viele Fragen auf, die aber ausdrücklich unbeantwortet blieben. So ist unbekannt, wer die Hefte sammelte, wann er oder sie die Hakenkreuze entfernte und welches Motiv dazu bewegte.
Geschah es aus Opportunismus oder vorauseilendem Gehorsam in einem neuen politischen Machtgefüge? Lag vielmehr der Wunsch zugrunde, die eigene Verstrickung in die deutsche Geschichte zu leugnen? Zeugt das Herauslösen nationalsozialistischer Symbolik von Scham, Trauer oder gar einem Akt des Widerstands? „All das ist und bleibt ein Rätsel. Die Regimentstochter schweigt dazu. Doch es ist, glaube ich, ein beredtes Schweigen, in dem Grundtöne falsch verstandener Vergangenheitsbewältigung anklingen sollen“, führte Grütters aus.
Tatsächlich sind es die Leerstellen, die dem Betrachter sofort ins Auge springen und zur Auseinandersetzung mit den Objekten und ihrem zeithistorischen Kontext anregen. „Dass der dunkle Teil unserer Identität durch Verdrängen und Verschweigen aber gerade nicht verschwindet, dass er vielleicht sogar selbst dort wieder sichtbar wird, wo man ihn zu tilgen trachtet“, zeige Tacita Deans „Regimentstochter“. Der Wunsch, Vergangenes hinter sich zu lassen, habe nicht nur die deutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, sondern sei auch gegenwärtig präsent, ergänzte die Kulturstaatsministerin.
Das Erinnern an die Vergangenheit sei eine fortwährende Aufgabe, sagte Prof. Dr. Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. „Es ist wirklich ein Tagesgeschäft. Wir müssen jeden Tag aufs Neue an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern“, bekräftigte er.
„Die Regimentstochter“, die ab 1. September 2015 im Informationszentrum des Hauses der Geschichte ausgestellt war, bringe den Betrachter auf eine ungewöhnliche Weise dazu, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Die Stärke des Werks sieht er darin, dass es viele Beschäftigungsmöglichkeiten aus dem Alltag und den Lebenssituationen des einzelnen Betrachters heraus ermögliche.
Genau das soll nun auch die Ausstellung des Werks im Deutschen Bundestag ermöglichen. „Die Regimentstochter“ ist im Untergeschoss des Jakob-Kaiser-Hauses angebracht - an einer Stelle, an der täglich sehr viele Bundestagsbeschäftigte passieren. Sie können sich nun mit der Botschaft des Werks auseinandersetzen.
Die Künstlerin Tacita Dean wurde 1965 in englischen Canterbury geboren. Sie studierte an der Falmouth School of Art und in London an der Slade School of Fine Art. Im Jahr 2000 erhielt sie ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für Berlin, wo sie seitdem lebt. Ihre Arbeiten wurden in bedeutenden Institutionen in aller Welt gezeigt. Tacita Dean widmet sich der Malerei, dem Druck, der Fotografie sowie Klanginstallationen. Ihr bevorzugtes Medium ist der analoge Film. Tacita Dean hat bereit durch frühere Werke, wie die Filme „Fernsehturm“ (2001) und „Palast“ (2004) den Ruf erworben, eine Chronistin deutscher Geschichte zu sein. (eb/27.04.2016)