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Wie das Kinder- und Jugendrecht in Deutschland weiterentwickelt werden kann, dazu hat die Kinderkommission des Bundestages eine neue Reihe von Expertengesprächen gestartet. Deren Ergebnisse sollen am Ende in eine gemeinsame Stellungnahme des Ausschusses einfließen, sagte der Vorsitzende Norbert Müller (Die Linke). In der öffentlichen Anhörung am Mittwoch, 8. Juni 2016, ging es zunächst um eine Bestandsaufnahme der gelten Rechtsgrundlagen und Praktiken. Als Sachverständige waren Prof. Dr. Hans Thiersch und Prof. Dr. Dr. Reinhard Wiesner geladen. In ihren Beiträgen riefen die beiden Wissenschaftler die Grundprinzipien und gesetzlichen Grundlagen des Kinder- und Jugendschutzes in Erinnerung und zeigten auf, wo Verbesserungsbedarf besteht.
„Wir müssen die Kinder vor allem in ihren eigenen Problemen sehen und nicht umgekehrt davon ausgehen, welche Probleme die Gesellschaft mit ihnen hat“, sagte Professor Thiersch und erläuterte, wie sich das Verständnis der Kinder- und Jugendfürsorge im Lauf der Jahrzehnte gewandelt hat. Ehemals als Objekte staatlicher Fürsorge betrachtet, würden die Heranwachsenden heute als Subjekte staatlicher Leistungen gesehen.
In den 1980er- und 1990er-Jahren habe man sich auf das moderne, heute geltende Kinder- und Jugendrecht, vor allem auf das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990, verständigt, in dem den Heranwachsenden soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe sowie das Recht auf Erziehung und Bildung zugesprochen wird.
Thiersch plädierte in diesem Zusammenhang dafür, die im Gesetz bestimmte Altersgrenze für Leistungen, die sich aus dem Recht auf Erziehung und Bildung ergeben, auf mindestens 21 oder sogar bis auf 26 Jahre anzuheben. Von der Volljährigkeit mit 18 als Eintritt ins Erwachsensein auszugehen, sei viel zu niedrig angesetzt und entspreche nach heutigem Erkenntnisstand nicht der Entwicklung und Lebensrealität der jungen Menschen.
Insgesamt gehe es beim Kinder- und Jugendschutz nach wie vor darum, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die Minderjährigen widerfahren, auszugleichen und die Jugendhilfe zu diesem Zweck mit ausreichenden finanziellen Mitteln auszustatten. „Es braucht den Kampf für bessere Ressourcen“, warb Thiersch.
Viel sei bereits auf der Haben-Seite, sagte auch Professor Wiesner. „Aber es gibt gute Gründe, das Kinder- und Jugendrecht weiterzuentwickeln.“ Oft spiegele sich zudem die bereits fortschrittliche Rechtslage noch nicht in der Rechtswirklichkeit wieder.
Zwar sei als eine der wichtigsten Neuerungen im August 2013 der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Kita oder in Kindertagespflege für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahrs eingeführt worden. Aber mit dem massiven quantitativen Ausbau habe die Qualität nicht Schritt gehalten, mahnte Wiesner. „Bei der Kindertagesbetreuung ist ein optimaler Zustand noch nicht erreicht.“
Eckhard Pols (CDU/CSU) wies auf die Rolle der Eltern als natürliche Erziehungsberechtigte hin und bat die Sachverständigen um eine Einschätzung, wie es um die Erziehungskompetenz der Eltern heute bestellt sei. Die Erziehungsverantwortung liege in der Tat bei den Eltern, so Reinhard Wiesner, es bestehe aber eine Mitverantwortung des Staates. Dass letztere heute öfter in Anspruch genommen werde, lasse sich aber nicht mit einer geringeren Kompetenz der Eltern begründen.
Vielmehr seien die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familie und Erziehung schwieriger geworden, die Alltagsbewältigung sei heute viel komplizierter als früher. Hans Thiersch warnte davor, Familie und professionelle Erzieher gegeneinander auszuspielen. Beide müssten Hand in Hand gehen und sich ergänzen.
Dass zu den Baustellen der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin die nicht immer konfliktfreie Aufgabenteilung zwischen öffentlichen Institutionen und den sogenannten freien Trägern, aber auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen gehört, wurde in Vorträgen und in der Diskussion ebenfalls deutlich.
Genauso die Frage der Finanzierung: Trotz sinkender Kinderzahlen seien die Kosten der Kinder- und Jugendfürsorge gestiegen. Dies könne man aber nicht den Betroffenen und Beteiligten in die Schuhe schieben, sagte Wiesner und erklärte, welche die Hauptkostenblöcke des Systems seien. Die wesentlichen Ausgaben entstünden im Bereich der Leistungen, auf die Berechtigte einen Rechtsanspruch hätten. Dies habe der Gesetzgeber so gewollt.
Weitere Gründe für steigende Kosten lägen häufig außerhalb des unmittelbaren Bereichs der Kinder- und Jugendhilfe und resultierten aus „sozial vorgelagerten Problemen“ wie Alleinerziehendenfamilien oder Familien, die staatliche Transferleistungen beziehen. Dies verdeutliche einmal mehr, dass die Kinder- und Jugendhilfe lediglich ein System von vielen im Sozialbereich sei, sagte Wiesner, und warb im Hinblick auf die anstehenden Reformen: „Alle Systeme müssen sich bewegen, nicht nur die Jugendhilfe.“
Die Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission) ist ein Unterausschuss des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Seine Mitglieder wachen über die Berücksichtigung der Rechte und Interessen von Kindern und Jugendlichen in Politik und Gesellschaft. (ll/08.06.2016)