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Das Parlament ist ein Ort des Streits und der Mehrheitsentscheidung. Das sollte auch in seiner Sitzordnung zum Ausdruck kommen, meint Dr. Philip Manow, Professor für moderne politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Im Interview nimmt Manow, Jahrgang 1963, auch zu den Ursprüngen der Immunität von Abgeordneten Stellung und äußert sich zu den Wahlkampfzeiten, in denen "die politische Ordnung temporär außer Kraft gesetzt" sei. Das Interview im Wortlaut:
Herr Professor Manow, Sie beschäftigen sich in ihren Forschungen unter anderem mit der Frage, in welcher symbolischen Ordnung sich politische Herrschaft zeigt. In vormoderner Zeit war der Körper des Königs das augenfälligste Symbol von Herrschaft. Doch auch moderne Demokratien, so Ihre These, besitzen einen politischen Körper. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Die herrschende Meinung lautet: Die Demokratie kenne keine Bilder, Volkssouveränität sei nicht darstellbar, Demokratien hätten - im Gegensatz zum Ancien Régime - kein eigenes Bilderprogramm. Ich halte diese Sicht für irrig. Sie ist schon in sich widersprüchlich: Nüchterne Sachlichkeit ist auch eine Form des ostentativen Sich-Ausstellens. Interessanterweise wird die These von der Leerstelle, die anstatt einer bildlichen Repräsentation in der Demokratie zu finden sei, getroffen, ohne dass man sich eingehender mit dem herausgehobensten Ort der Demokratie, dem Parlament, näher beschäftigt hätte. Meine These lautet, dass das Parlament, das schon in vormodernen Gesellschaften ein 'politischer Körper' war, dies auch heute noch - jedoch in veränderter Form - ist. König Heinrich VIII. hatte gesagt: 'We at no time stand so highly in our estate royal, as in the time of Parliament, wherein we as head, and you as members, are conjoined and knit together into one body politic.’ Heute sind Parlamente weiterhin Repräsentationen eines politischen Körpers - aber natürlich ohne königlichen Kopf.
Die Sitzanordnung in einem Parlament folgt Ihrer Ansicht nach nicht allein funktionalen Gesichtspunkten. Sie ist für Sie vielmehr Ausdruck der politischen Kultur eines Landes. Was sagen der Halbkreis und die ihm gegenüberstehenden Regierungsbänke im Deutschen Bundestag über unsere politische Kultur aus?
Ich denke: nichts Gutes! Zum einen sind die dem Plenum gegenübergestellten, auch noch erhöhten Regierungsbänke ein Überbleibsel des Spät-Konstitutionalismus, der von der Vorstellung einer Trennung und eines Gegenübers von Regierung und Parlament geprägt war. Es wäre besser, die Regierungsmitglieder säßen - wie etwa in Frankreich - in den vorderen Reihen des Plenums auf den Sitzen ihrer jeweiligen Fraktionen. Zum anderen tradieren die deutschen Parlamentsbauten neueren Datums, besonders stark natürlich der Behnisch-Bau in Bonn, mit ihrer dem Kreis angenäherten Sitzform eine - ich sage es mal polemisch - harmoniesüchtige Sozialpädagogen-Vorstellung von Demokratie: 'Gut, dass wir darüber gesprochen haben’. Das Parlament sollte allerdings ein Ort des Streits und der Mehrheitsentscheidung sein.
Die politische Immunität von Parlamentsabgeordneten, schreiben Sie in Ihrem Buch "Im Schatten des Königs" (2008), sei auch ein Überbleibsel aus Zeiten monarchischer Herrschaft. Das mag auf den ersten Blick verwundern: Was hat der Schutz eines Parlamentariers vor Strafverfolgung mit dem Körper des Königs gemeinsam?
Das ist eine komplizierte Geschichte. Historisch geht die parlamentarische Immunität auf den besonderen Schutz zurück, unter die der Monarch alle diejenigen stellt, die ihm mit Rat zur Seite stehen. Die Immunität der Abgeordneten entwickelt sich daher aus der Immunität, die Richter genießen, wie ja das Parlament zunächst vor allem auch ein Hohes Gericht ist. Richter sind aber in dem Moment, in dem sie Recht sprechen, Stellvertreter des Königs, nehmen daher auch an seiner rechtlichen Ausnahmestellung Teil. Die gängige Deutung, die Abgeordnetenimmunität sei ein parlamentarisch erkämpftes Schutzrecht gegenüber feudaler Herrscherwillkür, ist zumindest unzutreffend.
Kommen wir noch einmal auf die Sitzanordnung im Deutschen Bundestag zu sprechen. Dass der Parlamentspräsident erhöht hinter dem Redner sitzt, der sich dem Parlament zuwendet, ist keinesfalls selbstverständlich und nicht die einzig mögliche Form einer Debattenordnung, wie das englische Beispiel zeigt. Was hat es mit dieser Ordnung auf sich?
Im englischen Parlament wie auch in der französischen Assemblée nationale bis zum Umzug in den Palais des Tuileries 1793 spricht der Redner nicht zum Plenum, sondern zum Speaker beziehungsweise Präsidenten. Dieser ist entweder an der Stirnseite positioniert - wie im House of Commons - oder im französischen Parlament in einer langen, gestreckten Amphitheaterform auf der der Rednertribüne gegenüberliegenden Seite. Diese Konstellation ist Ausdruck der vormodernen Parlamentsfunktion. Die verschiedenen Stände tagen - nach einer gemeinsamen Auftaktsitzung - getrennt, und der Präsident oder Vorsitzende des Parlaments berichtet dann in einer abschließenden gemeinsamen Sitzung dem Herrscher die Beschlussfassung. Dass das heute im Großen und Ganzen noch Praxis im englischen House of Commons ist, muss als Beleg für seine weit in das Mittelalter zurückreichenden Wurzeln, die ja britisch-liebevoll gepflegt werden, gewertet werden.
Schon die mediale Aufmerksamkeit zeigt: Wahlen und Wahlkämpfe sind die zentralen und am intensivsten verfolgten Ereignisse demokratischer Ordnungen. Woran liegt das? Welche symbolische Bedeutung spiegelt sich in ihnen?
Wahlen markieren die Übergangsmomente in demokratischen Gesellschaften. Sie sind politische 'Rites de passage’. Sie haben deswegen auch ein karnevalistisches Moment. In Wahlkämpfen herrscht rituelle Anarchie. Die politische Ordnung ist temporär außer Kraft gesetzt. Die, die geherrscht haben, herrschen nicht mehr, die neuen Herrscher herrschen noch nicht. In Wahlzeiten befinden sich Gesellschaften in einem Zustand erhöhter Erregung. Meine Vermutung ist, dass man das sogar an der Kriminalitätsstatistik - und vermutlich auch an der Geburtenstatistik - ablesen kann. Aber hierzu gibt es - soweit ich sehe - noch nicht viele Untersuchungen.