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Die Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Katja Kipping (Die Linke), begrüßt, dass die Bundesregierung das Kurzarbeitergeld länger zahlen will. Im einem am Montag, 26. April 2010, in der Wochenzeitung "Das Parlament" erschienenen Interview äußert Kipping, die zugleich sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist, zugleich Kritik an der geplanten Grundgesetzänderung zur Reform der Jobcenter. Der Kompromiss von Union und SPD führe zu noch mehr Gemeinden, die Arbeitslose in Eigenregie betreuen. "Arbeitsmarktpolitik darf aber nicht nach dem Flickenteppichprinzip funktionieren", sagt Kipping. Das Interview im Wortlaut:
Im Ausland wird das deutsche Jobwunder neidisch bestaunt, weil es trotz Krise kaum mehr Arbeitslose gibt. Was machen wir besser als andere?
Wir sind besser darin, die Statistiken zu schönen, weil wir nicht diejenigen mitzählen, die in einer Maßnahme oder Fortbildung stecken oder frühverrentet wurden. Den Optimismus, es werde auf dem Arbeitsmarkt nun besser werden, teile ich nicht, weil in vielen Branchen die konjunkturelle Krise auf eine strukturelle Krise trifft. Was tatsächlich Schlimmeres verhindert hat, ist die staatliche Förderung der Kurzarbeit.
Unter dem Beifall der Gewerkschaften will die Bundesarbeitsministerin die Kurzarbeit nun länger fördern. Außerdem gelingt ihr offenbar die lange umstrittene Jobcenterreform. Beißt sich die Opposition an Ursula von der Leyen die Zähne aus?
Ich freue mich über jede Frau, die Erfolg hat, das vorweg. Ich freue mich auch, dass die Ministerin unseren alten Vorschlag, die Kurzarbeit länger zu fördern, aufgreift. Die Jobcenterreform sehe ich allerdings kritisch.
Warum?
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass die Jobcenter in ihrer heutigen Form verfassungswidrig sind. Jetzt soll einfach die Verfassung geändert werden, das ist bedenklich. Der Kompromiss von CDU und SPD enthält die Ausweitung der Optionskommunen, also jener Städte und Gemeinden, die Arbeitslose in Eigenregie betreuen. Arbeitsmarktpolitik darf aber nicht nach dem Flickenteppichprinzip funktionieren. Mit der weiteren Kommunalisierung droht auch eine Kannibalisierung der Kommunen untereinander. Gemeint ist ein Überbietungswettbewerb zwischen den Kommunen bei Zuschüssen an Firmen, die Erwerbslose einstellen.
Die vergangene Woche stand ganz im Zeichen der Arbeitsmarktpolitik: vier Plenardebatten, zwei Anhörungen und die Arbeitsmarktbeschlüsse des Kabinetts. Die Ministerin will sich jetzt verstärkt um Problemgruppen bei Hartz IV kümmern. Das müsste Ihnen doch gefallen.
Die Ankündigung, unter 25-Jährige müssten binnen sechs Wochen ein Angebot annehmen, sonst drohe die Streichung des Arbeitslosengeldes II, beschreibt doch nur, was wir längst haben. Ich sehe vielmehr die Gefahr, dass die Leute in irgendwelche Maßnahmen gestopft werden, die sie nicht wirklich weiterbringen. Unterschwellig schwingt bei den Regierungsvorstößen der Vorwurf mit, das Problem sei ein Mangel an Arbeitsbereitschaft. Dabei ist das eigentliche Problem ein Mangel an guten Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. So fehlen 93.000 Lehrstellen. Der Ruf nach noch mehr Sanktionen soll doch nur von diesem Scheitern der Politik ablenken.
Was spricht gegen Sanktionen, wenn ein Arbeitsloser offensichtlich nicht kooperativ ist?
Das ist nicht der Punkt. Im Jahr 2008 wurden über 250.000 Mal Sanktionen gegen unter 25-Jährige verhängt: Davon in gerade einmal vier Prozent der Fälle, weil jemand ein so genanntes zumutbares Arbeitsangebot abgelehnt hat, dagegen in 60 Prozent der Fälle, weil Fristen versäumt wurden. Die Linke fordert: Sanktionen müssen abgeschafft werden.
Die Linksfraktion hat gerade einen Antrag mit umfassenden Reformvorschlägen eingebracht: zehn Euro Mindestlohn, mehr Streikrechte, mehr betriebliche Gesundheitsförderung, mehr Rechte für Frauen und Eltern. All das gefährde Arbeitsplätze, konterten die Regierungsfraktionen. Was entgegnen Sie?
Im Unterschied zur Wirtschaft ist in der Politik nicht nur betriebswirtschaftliches, sondern auch volkswirtschaftliches Denken gefragt. Der Kurs der vergangenen Jahre mit Niedriglohnsektor, wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschieden hat uns in die Krise geführt. Denn zum einen ging die Massenkaufkraft zurück, zum anderen wuchs dadurch der Druck in der Spekulationsblase. Wenn es einen Mindestlohn gäbe, könnten sich wieder mehr Menschen Friseurbesuche oder Handwerkerleistungen leisten. Und die Unternehmen sind nicht gezwungen, sich mit Dumpinglöhnen zu unterbieten.
Union und FDP befürchten Jobabbau durch einen Mindestlohn für alle.
Der Mindestlohn ist auf dem Vormarsch, wir sind die Vorreiter. Inzwischen sind Gewerkschaften, SPD und Grüne dafür, innerhalb der CDU bröckelt die Blockade, immerhin will man dort inzwischen ja auch Branchenmindestlöhne.
Die Schuldenbremse verlangt einen Sparkurs, wie ihn Deutschland noch nie gesehen hat. Auch beim riesigen Etat des Bundesarbeitsministeriums muss es Einschnitte geben, fordern die Haushälter. Wo kann gespart werden?
Da sehe ich keine Einsparmöglichkeiten. Ich würde eher das Ehegattensplitting abschaffen, was 20 Milliarden Euro pro Jahr bringt, oder als Pazifistin bei der Bundeswehr oder beim Verfassungsschutz kürzen. Statt zu sparen kann man aber auch die Einnahmen erhöhen. Wer zum Beispiel durch den Handel mit Aktien Gewinne erzielt, sollte stärker zur Kasse gebeten werden. Deswegen sind wir Linke für eine Börsenumsatzsteuer.
Mit linken Positionen, die Sie gerne pointiert vortragen, müssen Sie sich als Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales in den Sitzungen zurückhalten. Fällt Ihnen der Rollenwechsel leicht?
Ich trenne die Tagungsleitung klar von der politischen Argumentation. Im Ausschuss wechsele ich bei Themen, für die ich für meine Fraktion inhaltlich verantwortlich bin, den Platz und übergebe die Leitung an meinen Stellvertreter von der Union. So ist ganz klar, wann ich Moderatorin bin und wann ich als sozialpolitische Sprecherin der Linken argumentiere.
Haben Ausschussvorsitzende mehr Einfluss als "normale" Bundestagsabgeordnete?
Die formalen Kompetenzen sind durch die Geschäftsordnung begrenzt. Aber ich habe mehr Kontakte und ein Mehr an Öffentlichkeit. Und ich kann den einen oder anderen Punkt setzen. Auf dem Höhepunkt der von FDP-Chef Westerwelle angestoßenen Debatte über die spätrömische Dekadenz zum Beispiel habe ich gemäß dem Motto "Nicht nur über, sondern auch mit Erwerbslosen reden" die Obleute aller Fraktionen zu einem Gespräch mit Erwerbsloseninitiativen eingeladen, die Sanktionen bei Hartz-IV-Beziehern aussetzen wollen.
Die Hoffnungen Ihrer Partei ruhen für die Wahl in Nordrhein-Westfalen auf einem Landesverband, der selbst in Ihren Reihen als Gruppe von Sektierern und Fundamentalisten wahrgenommen wird. Wie passt das zusammen?
Da picken sich die Medien Einzelheiten aus dem Programm wie die Forderung nach dem Recht auf Rausch heraus und skandalisieren das. In Bayern wird das Recht auf Rausch beim Oktoberfest geradezu kollektiv praktiziert. Außerdem wehre ich mich gegen diese Einteilung der Linkspartei. Für mich laufen die Konfliktlinien anders: zum Beispiel zwischen einem konservativen und einem emanzipatorischen Verständnis von Links. Letzterem hänge ich an und trete etwa für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ein.