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Der bisherige Ministerpräsident Niedersachsens, Christian Wulff, ist am Mittwochabend, 30. Juni 2010, im dritten Wahlgang zum neuen Bundespräsidenten gewählt worden. Nach mehr als neunstündiger Dauer der 14. Bundesversammlung unter Vorsitz von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (im Video) erhielt Wulff 625 von 1.242 abgegebenen Stimmen. Auf den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und späteren Beauftragten für die Stasi-Unterlagen Joachim Gauck entfielen 494 Stimmen. Es gab 121 Enthaltungen, zwei Stimmen waren ungültig. Wulff schaffte im dritten Wahlgang die absolute Mehrheit von mindestens 623 Stimmen, die ihm in den beiden ersten Wahlgängen versagt geblieben war. Der neue Bundespräsident wird am Freitag, 2. Juli, in einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat ab 13 Uhr im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes vereidigt.
Im ersten Wahlgang waren auf Christian Wulff 600, auf Joachim Gauck 499, auf Dr. Lukrezia Jochimsen 126 und auf Frank Rennicke drei Stimmen entfallen. Es gab 13 Enthaltungen, eine Stimme war ungültig. Im anschließenden zweiten Wahlgang konnte Christian Wulff 615 Stimmen auf sich vereinigen, Joachim Gauck 490, Dr. Lukrezia Jochimsen 123 und Frank Rennicke drei. Es gab sieben Enthaltungen, eine Stimme war ungültig. Wulff war von CDU, CSU und FDP, Gauck von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Jochimsen von der Linken und Rennicke von der NPD vorgeschlagen worden.
Wulff, der vor der Annahme der Wahl seinen sofortigen Rücktritt vom Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten erklärt und seinen Stellvertreter mit den Amtsgeschäften beauftragt hatte, erklärte, er nehme die Wahl "außerordentlich gerne und aus Überzeugung" an und freue sich auf die Aufgabe. Mit der Annahme der Wahl hat Wulff zugleich sein neues Amt angetreten.
Wulff sagte, er bekunde allen seinen Respekt, die ihn nicht gewählt hatten, und werde sich bemühen, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Joachim Gauck dankte er für einen "fairen Wettstreit". Er freue sich, dass Gaucks Wort über Deutschland hinaus weiterhin großes Gewicht haben werde.
Für Heiterkeit sorgte die Bemerkung des neuen Präsidenten, angesichts dessen, dass er neun Jahre gebraucht habe, um Ministerpräsident von Niedersachsen zu werden, sei die Bundesversammlung "relativ kurz" gewesen.
Wulff dankte seinem Amtsvorgänger Horst Köhler und dessen Frau Eva Luise dafür, dass sie mit ihrem Auftreten die Sympathien und Herzen der Menschen gewonnen hätten: "Horst Köhler hat Deutschland gedient."
Bewegend sei für ihn, dass er im 20. Jahr der deutschen Einheit zum Bundespräsidenten gewählt worden sei. Er wolle zur inneren Einheit beitragen. "Wenn wir gemeinsames Leben in Frieden und Freiheit gedeihen lassen wollen, brauchen wir jeden in unserem Land", betonte der Präsident. Parallelgesellschaften würden verhindern, dass "wir aufeinander zugehen".
Deutschland sei ein wunderbares Land - "unsere Heimat, eine Geschichte, die uns verpflichtet. Gott schütze unser Land!" Mit der Nationalhymne endete die 14. Bundesversammlung.
Gut neun Stunden zuvor hatte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert als Präsident der Bundesversammlung besonders die Vertreter der Verfassungsorgane willkommen geheißen. Er dankte Bundesratspräsident Jens Böhrnsen (Bremen), der seit dem Rücktritt Köhlers am 31. Mai die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrgenommen hatte. Zugleich begrüßte er den früheren Bundespräsidenten Prof. Dr. Roman Herzog und die ehemalige Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth. Die Ansprache Lammerts ist als Video abrufbar (oben).
"Diese Bundesversammlung findet statt, weil der Bundespräsident sein Amt niedergelegt hat, mit sofortiger Wirkung - ein in der Geschichte der Bundesrepublik, ja in der Demokratiegeschichte unseres Landes einmaliger Vorgang", sagte Lammert. "Diese Entscheidung und ihre Gründe haben wir zu respektieren, auch wenn viele von uns sie noch immer nicht wirklich verstehen können."
Der überraschende Amtsverzicht Köhlers habe in der Öffentlichkeit manche Fragen aufgeworfen, die nach Antworten suchten, und er habe zugleich eine Nachdenklichkeit erzeugt, die bei allen Beteiligten Anlass auch zur selbstkritischen Befassung mit ihrer eigenen Rolle und zum Umgang mit öffentlichen Ämtern gebe, unterstrich der Bundestagspräsident. Dies gelte für Amtsinhaber wie Bewerber, für politische Parteien wie für die Medien.
"Der Bundespräsident wird gewählt", sagte Lammert. Damit unterliege das Amt des Staatsoberhauptes genau denselben Regeln demokratischer Legitimation wie jedes andere öffentliche Amt. Die Person präge das Amt, aber sie gehe nicht in ihm auf. Ebenso wenig definiere sich das Amt durch den jeweiligen Amtsträger.
"Die Übernahme eines Amtes macht aus der Person keinen Würdenträger, aber mit der Annahme der Wahl eben mehr als eine Privatperson. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und Funktionen", sagte der Bundestagspräsident. Niemand müsse öffentliche Ämter übernehmen. Wer kandidiere und gewählt werde, übernehme allerdings eine Verantwortung, die er mit all seiner Kraft, nach bestem Wissen und Gewissen, wahrzunehmen habe.
"Niemand von uns steht unter Denkmalschutz. Weder die Parlamente noch die Regierungen, nicht einmal das Staatsoberhaupt. Kritik muss sein", betonte Lammert. Aber den Anspruch auf "Wahrhaftigkeit und Respekt" habe Bundespräsident Köhler zu Recht nicht nur für sich, sondern für die politische Kultur "unseres Landes im Ganzen" reklamiert, sagte der Präsident unter großem Beifall.
Lammert erinnerte an das Ende der Grenzüberwachung und der Grenzkontrollen an der innerdeutschen Grenze vor 20 Jahren, mit Ablauf des 30. Juni 1990: "Der Freiheitswille der Menschen hatte gesiegt", sagte der Präsident unter Beifall. "In einer friedlichen Revolution gegen politische Bevormundung und Entmündigung war es der Bürgerrechtsbewegung und am Ende Hunderttausenden mutiger DDR-Bürger gelungen, eine Diktatur zu stürzen."
Lammert schloss mit den Worten: "Wenn wir im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit den zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland wählen, dann können wir das mit großer Dankbarkeit, aber auch mit berechtigtem Stolz auf die Verfassung eines glücklichen Landes tun, das zu einer gefestigten Demokratie in Einheit und Freiheit geworden ist." Dies sei ein hinreichender Grund für einen "aufgeklärten, fröhlichen Patriotismus".