Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2010
Bei der öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch, 6. Oktober 2010, erörterten die geladenen Sicherheitsexperten das neue strategische Konzept des NATO-Bündnisses. Sie nahmen Stellung zu Fragen der Bedrohungsanalyse, der Reform und Effizienzsteigerung der NATO, der Reduzierung der Nuklearwaffen, den Plänen zur Raketenabwehr und dem Verhältnis zu Russland. Die Ausschussmitglieder zeigten sich zu Beginn der etwa vierstündigen Sitzung in höchstem Maße unzufrieden darüber, dass den Fraktionen Einsicht in den als geheim eingestuften Entwurf aus dem NATO-Hauptquartier und damit den Gegenstand der Anhörung, bislang nicht möglich war. Am Ende der Sitzung teilte der Ausschussvorsitzende Ruprecht Polenz (CDU/CSU) mit, dass die Unterlagen zum Rasmussen-Entwurf nun zumindest für die Obleute der Fraktionen einzusehen seien.
Der Entwurf von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen soll beim Treffen der Außen- und Verteidigungsminister am 14. Oktober 2010 in Brüssel und beim Gipfeltreffen der Regierungschefs aller NATO-Länder Mitte November 2010 in Lissabon beraten werden.
Nach Auffassung von Dr. Karl-Heinz Kamp, Leiter der Forschungsabteilung des NATO Defense College in Rom, wird das neue Konzept keine "Bedrohungsszenarien“ im klassischen Sinne benennen. Der Entwurf spreche von "drei wesentlichen Kernaufgaben“, nämlich der kollektiven Verteidigung, dem Krisenmanagement und der Förderung der internationalen Stabilität.
Die Sachverständigen erwarten daher einen längeren Diskussionsprozess innerhalb des Bündnisses, der von "Folgeaufträgen“ begleitet wird, die konkretere Schritte und Maßnahmen enthalten, die sich aus dem eher allgemein gehaltenen strategischen Konzept ergeben.
Einigkeit bestand darin, dass sich nach einer gewissen Ernüchterung über die Entwicklung der bisherigen Out-of-Area-Einsätze und trotz gesunkener Zustimmung in der Öffentlichkeit und finanzieller Engpässe Engagements im Rahmen der Vereinten Nationen auch in Zukunft zu erwarten sind.
Die Bedrohungsanalyse, soweit aus bisherigen Statements des Generalsekretärs und aus dem Albright-Report bekannt (Angriffe mit ballistischen Raketen, terroristische Angriffe, Cyber-Angriffe als wahrscheinlichste Bedrohungen) bewerteten sowohl die Sachverständigen zum Teil sehr kritisch, jedenfalls unterschiedlich.
Nach Meinung von Prof. Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, argumentiete die Bedrohungsanalyse, die im Albright-Bericht vorgelegt wird, erstaunlich traditionell.
Zum einen handele es sich, so Prof. Dr. Dr. Hans. J. Gießmann, Direktor des Berghof Conflict Research aus Berlin, nicht um spezifisch für die NATO und deren Mitglieder manifeste potenzielle Bedrohungen, sondern um globale Risiken, mit denen sich alle Staaten konfrontiert sähen.
Es bestehe eine Differenz zwischen der Qualität der identifizierten Risiken und Bedrohungen und der Eignung von Streitkräften, diese Bedrohungen abzuwehren. Dies treffe neben der Terrorbekämpfung auch auf Cyber-War-Angriffe im Internet zu.
Mit Blick auf die Bedrohung durch Cyber-Angriffe warnte die FDP-Fraktion im Ausschuss vor einer Verbindung mit Artikel 5 des NATO-Vertrages, der die gegenseitige Beistandspflicht im Falle eines Angriffs regelt. Überhaupt wurde der Sinn einer Rolle der ATO in diesem Punkt von Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linksfraktion infrage gestellt.
Demgegenüber sah ein Vertreter der CDU/CSU bei einer Cyber-Attacke die fundamentalen Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten durchaus berührt, etwa bei Angriffen auf Atomkraftwerke.
Die Frage, inwieweit die Sicherheitsgarantie auch für Fälle gilt, in denen derartige oder auch terroristische nukleare Angriffe von Staaten aus unternommen werden, deren Regierungen daran nicht beteiligt sind und die sich vertragskonform verhalten, sei allerdings bislang ungeklärt.
Dr. Karl-Heinz Kamp, Leiter der Forschungsabteilung des NATO Defense College (NDC), Rom
Dr. Matthias Dembinski, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt am Main
Dr. Markus Kaim, Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin
Prof. Dr. Dr. Hans J. Gießmann, Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Berlin
Prof. Dr. Michael Brzoska, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg