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Die anstehende Reform des Wahlrechts bleibt im Bundestag heftig umstritten. Dies wurde am Donnerstag, 17. März 2011, in der ersten Lesung eines entsprechenden Gesetzentwurfes (17/4694) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2008 (Akenzeichen 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) deutlich. Dem Richterspruch zufolge verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen könne.
Dieses Phänomen des sogenannten negativen Stimmgewichts soll nach dem Willen der Grünen-Fraktion durch eine ”systemkonforme Änderung im geltenden Wahlsystem“ beseitigt werden. Für die Novellierung hatten die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30. Juni 2011 eingeräumt.
Der paradoxe Effekt des negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.
Nach dem Gesetzentwurf der Grünen-Fraktion soll nun die Anrechnung der Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis ”bereits auf Bundesebene, auf der Ebene der sogenannten Oberzuteilung, und nicht - wie nach bislang geltendem Recht - auf Länderebene“ erfolgen.
”Überhangmandate werden nicht mehr entstehen: Dies verhindert die genannte Anrechnungsmethode auf der Ebene der Oberzuteilung“, heißt es in der Vorlage weiter.
In Fällen wie bei der nur in Bayern vertretenen CSU, bei der eine Anrechnung der Direktmandate auf Bundesebene nicht möglich ist, sollen entstandene Überhangmandate dem Grünen-Entwurf zufolge nicht mehr zuerkannt werden. Unbesetzt bleiben sollen dabei ”diejenigen überschüssigen Sitze, die den geringsten prozentualen Stimmanteil aufweisen“.
In der Debatte wiesen Vertreter der Koalition wie auch der Linksfraktion den Grünen-Vorschlag entschieden zurück, während der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, ihn als mögliche, aber nicht beste Lösung bewertete.
Wie Oppermann warf auch sein Grünen-Kollege Volker Beck der Koalition vor, sie habe noch keinen Vorschlag für die Wahlrechtsreform vorgelegt, weil Union und FDP sich nicht einigen könnten.
Beck warb dafür, die Überhangmandate abzuschaffen. Es bestehe die "ernsthafte Gefahr, dass der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt werden könnte durch den Effekt der Überhangmandate, indem ein Teil des Hauses die Mehrheit der Zweitstimmen erringt, aber ein anderer Teil des Hauses die Mehrheit der Mandate hat".
Beck fügte hinzu, dass seine Fraktion an ihrem Vorschlag nicht "klebt", doch werde man es der Koalition nicht durchgehen lassen, wenn sie ein Wahlgesetz beschließe, "das dazu führen kann, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nicht zu einer Mehrheit der Mandate im Deutschen Bundestag führt".
Unionsfraktionsvize Dr. Günter Krings räumte ein, dass man "mit Hochdruck" über die Neuregelung sprechen müsse. Ihm sei es aber lieber, die vorgegebene Frist "notfalls bis zur Neige ausschöpfen", als ein so "dürftiges Machwerk" wie den Grünen-Entwurf vorzulegen.
Dieser Entwurf zeige, dass das "hochkomplexe Problem" des negativen Stimmgewichts nicht einfach zu lösen sei. Dessen Ursache sei die Verknüpfung der Landeslisten. Wenn aber "das Problem die Verbindung der Landeslisten ist, könnte ja die Lösung die Trennung der Landeslisten sein", sagte Krings.
Der Grünen-Vorschlag sei jedoch "regional und föderal in einem hohen Maße ungerecht". Auch sei der Vorschlag "Gift (...) für das Vertrauen der Menschen in die Integrität des Wahlvorgangs", einem in seinem Wahlkreis direkt gewählten Abgeordneten sein Mandat zu verweigern.
Oppermann sagte, wenn die Koalition überlege, das Wahlvolk in 16 autonome Teilgebiete aufzuteilen, würde die Fünf-Prozent-Klausel dann landes- und nicht mehr bundesweit gelten. Eine Partei wie die NPD "würde dann Schwerpunktwahlkämpfe durchführen, um in den Ländern, wo sie Chancen hat, in den Deutschen Bundestag einzuziehen".
Oppermann plädierte dafür, stattdessen zusammen mit dem negativen Stimmgewicht die "grob ergebnisverzerrende Wirkung von Überhangmandaten zu beseitigen". Seine Fraktion schlage vor, die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate zu kompensieren, damit die Zusammensetzung des Bundestages dem Zweitstimmenergebnis entspricht.
Da dies zu einer erheblichen Vergrößerung des Parlaments führe, müsse man dann in der übernächsten Wahlperiode die Zahl der Wahlkreise verringern.
Der FDP-Abgeordnete Stefan Ruppert hielt der Grünen-Fraktion vor, ihr Lösungsvorschlag sei nicht verfassungsgemäß und "untragbar". Bei Ausgleichsmandaten wiederum werde man in einem Parlament mit vielen Überhangmandaten einen " sehr großen Hebel für den Ausgleich" bekommen.
Der FDP-Parlamentarier fügte hinzu, es gebe einen "schmalen Korridor" von denkbaren Lösungen, doch führten all diese Systeme verfassungsrechtlich zu "Kollateralschäden, die es gegeneinander abzuwägen gilt". Notwendig sei nun, den Diskussionsprozess über die Neuregelung zu beschleunigen.
Für die Fraktion Die Linke sagte deren Abgeordnete Halina Wawzyniak, der Grünen-Vorschlag sei nicht überzeugend. Sie plädierte dafür, das Wahlrecht nicht nur beim negativen Stimmgewicht zu ändern. Es müsse darum gehen, den Bürgern mehr Einfluss auf die Politik zu geben.
So debattiere ihre Partei etwa darüber, ob die Fünf-Prozent-Hürde "tatsächlich erforderlich ist, um die Demokratie zu bewahren", oder über die Frage, ob neben dem aktiven auch das passive Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden sollte. In Kürze werde Die Linke einen umfassenden Vorschlag zu einer Reform des Wahlrechts unterbreiten. (sto)