Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2011
Fünf Wochen vor Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist für eine Reform des Wahlrechts hat der Bundestag am Donnerstag, 26. Mai 2011, erneut über die notwendige Novellierung debattiert. Dabei berieten die Abgeordneten in erster Lesung über entsprechende Gesetzentwürfe der SPD- und der Linksfraktion. Nicht auf der Tagesordnung stand ein Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen (17/4694) zur Wahlrechtsnovelle, der bereits im März erstmals im Plenum behandelt wurde. Während Vertreter von CDU/CSU und FDP die drei Oppositionsvorlagen in der Aussprache entschieden ablehnten, verwiesen SPD, Linke und Grüne darauf, dass die schwarz-gelbe Koalition bislang noch keinen Gesetzentwurf für eine Neuregelung vorgelegt habe.
Mit ihren Vorlagen haben die drei Oppositionsfraktionen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 reagiert, in dem der Gesetzgeber verpflichtet wurde, das Wahlrecht "spätestens bis zum 30. Juni 2011" zu reformieren. Wie die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung (Aktenzeichen: 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) urteilten, verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil "ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann".
Dieser paradoxe Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen, als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.
Die SPD-Fraktion schlägt in ihrem Gesetzentwurf (17/5895) vor, die Zahl der Abgeordneten gegebenenfalls "so weit anzupassen, dass Überhangmandate im Verhältnis der Parteien zueinander vollständig ausgeglichen werden". Mit der Gesetzesänderung entfalle das negative Stimmgewicht "bis auf seltene und unvermeidliche Ausnahmefälle", heißt es in der Vorlage.
Einer unerwünschten Vermehrung der Abgeordnetenzahl lasse sich entgege wirken, indem der Anteil der Direktmandate an der Gesamtsitzzahl verringert wird. Dadurch ließen sich "Überhang- und ihnen folgend Ausgleichsmandate weitgehend vermeiden". Wegen der dazu erforderlichen Vergrößerung der Wahlkreise solle eine entsprechende Gesetzesänderung "nach den Erfahrungen mit der nächsten Bundestagswahl erfolgen".
Die Linksfraktion plädiert in ihrem Gesetzentwurf (17/5896) für eine umfassende Reform des Wahlrechts. Danach soll unter anderem die Fünf-Prozent-Hürde abgeschafft und das aktive Wahlrecht auch Jugendlichen ab 16 Jahren sowie Ausländern, die seit fünf Jahren legal in Deutschland leben, zugestanden werden.
Mit Blick auf das negative Stimmgewicht greift Die Linke den Grünen-Vorschlag auf, dass die Anrechnung von Direktmandaten auf das Zweitstimmenergebnis künftig bereits auf der Bundesebene erfolgen soll. Sofern dann in "seltenen" Fällen wie bei der nur in Bayern vertretenen CSU dennoch Überhangmandate entstehen, sollen diese - entgegen der Grünen-Vorlage - nach dem Willen der Linksfraktion zwar zuerkannt, aber mit Ausgleichsmandaten kompensiert werden.
In der Debatte räumte Unions-Fraktionsvize Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ein, dass die Koalitionsfraktionen "zu lange brauchen, bis sie einen ausformulierten Gesetzentwurf" zu dem Thema vorlegen. Es reiche aber nicht aus, wie die Opposition "irgendetwas vorzulegen". Vielmehr müsse ein Vorschlag auch verfassungskonform, transparent sowie "fair zwischen den verschiedenen Parteien und fair zwischen den verschiedenen Regionen" sein.
Diese Mindestvoraussetzungen erfüllten die drei Oppositionsvorlagen "eindeutig nicht". Da das negative Stimmgewicht durch die Verbindung von Landeslisten entstehe, müsse die Lösung des Problems in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten bestehen, wobei es noch "Untervarianten" gebe, fügte Krings hinzu und kündigte die Vorlage eines Gesetzeskonzepts an, das transparent, gerecht und verfassungskonform sein werde.
Der FDP-Parlamentarier Dr. Stefan Ruppert kritisierte den Vorschlag der SPD als untauglich zur Lösung des Problems. Einen Schritt weiter als die Sozialdemokraten seien die Grünen, deren Vorschlag zumindest dazu tauge, die Frage des negativen Stimmgewichts zu lösen. Mit dem Modell der Grünen seien aber auch gravierende verfassungsrechtliche Nachteile verbunden.
Er wolle dagegen "das Problem dort angehen, wo es entsteht, nämlich bei der Trennung von Wahlgebieten", fügte Ruppert hinzu. Dabei gebe es "drei Möglichkeiten für die Wahl in getrennten Wahlgebieten", die er ernsthaft diskutieren wolle.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, warf der Koalition eine "grobe Missachtung der Rechtsprechung" des Gerichts vor. Noch immer gebe es keine Mehrheit im Parlament für ein verfassungskonformes Wahlrecht. Die Koalition habe "die Uhr einfach ablaufen lassen" und nichts gemacht. Dies sei eine "unglaubliche verfassungspolitische Respektlosigkeit".
Die Koalition habe keine Einigung, weil sie das Wahlrecht in erster Linie als "Instrument zur Machtabsicherung" betrachte. Die Union wolle um jeden Preis die Überhangmandate behalten, die sie bei der letzten Bundestagswahl "reichlich" bekommen habe. Ein verfassungskonformes Wahlrecht müsse aber nicht nur das negative Stimmgewicht beseitigen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren.
Für die Linksfraktion sagte ihr Parlamentarier Jan Korte, wenn die Union die Vorschläge der Opposition als demokratiefeindlich kritisiere und selbst nichts vorlege, sei dies "völlig unangemessen" und gehe "voll an der Sache vorbei". Mit ihren Reformvorschlägen gehe seine Fraktion über die Frage des negativen Stimmgewichts hinaus und wolle versuchen, "die Demokratie attraktiver zu machen" und "mehr Leute an Partizipationsprozessen zu beteiligen".
Angesichts der niedrigen Wahlbeteiligung und der "Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen Demokratie" sei es höchste Zeit, beim Wahlrecht "umfassend Änderungen vorzunehmen".
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, kritisierte, die schwarz-gelbe Koalition habe keine Angaben gemacht, wann sie einen Gesetzentwurf vorlegen und wie sie die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts noch erreichen wolle, eine Neuregelung bis Ende Juni zu verabschieden. Er räumte ein, dass der Vorschlag seiner Fraktion auch Nachteile habe.
Das Modell sei aber "zweifelsfrei verfassungskonform" und löse das Problem des negativen Stimmgewichts ebenso wie das der Überhangmandate. Mit ihrem Vorschlag habe die Grünen-Fraktion einen der Lösungswege aufgegriffen, die das Verfassungsgericht selbst in seinem Urteil beschrieben habe. (sto)