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Sachverständige haben das Bemühen des Bundestages um eine Entschädigung misshandelter Heimkinder in den vierziger bis siebziger Jahren gewürdigt. In der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Vorsitz von Sibylle Laurischk (FDP) am Montag, 27. Juni 2011 benannten sie aber wesentliche Punkte, die sie weiter für klärungsbedürftig halten. Grundlage waren ein Antrag der Fraktionen von Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen (17/6143) sowie ein Antrag der Fraktion Die Linke (17/6093). Beide Anträge greifen Ergebnisse des vom Bundestag eingerichteten Runden Tisches ”Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren auf“. Das Gremium hatte sich mit der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in deutschen Heimen beschäftigt.
Prof. Dr.Christian Schrapper vom Institut für Pädagogik der Universität Koblenz-Landau sagte, es gelte ”Wissen zu erzeugen“, sowohl Betroffenen als auch Verantwortlichen ”eine Stimme zu geben“ und ”öffentliche Orte der Erinnerung“ zu schaffen. ”Ich halte nichts von einer bundesweiten Gedenkstätte“, sagte Schrapper.
Die Handlungsweisen in den Kinder- und Jugendheimen seien regional unterschiedlich gewesen. Es sei daher sinnvoller, regionale Gedenkstätten zu schaffen.
Dr. Friederike Wapler, Rechtswissenschaftlerin der Universität Göttingen, benannte die Problematik der finanziellen Entschädigung. Der Runde Tisch hatte finanzielle Hilfen für die Betroffenen empfohlen. Eine pauschalisierte Entschädigung für alle Heimkinder, wie sie die Linksfraktion empfehle, werfe das Problem auf, dass alle Heime auf die gleiche Stufe gestellt würden. Bei einer individuellen Entschädigung, bei der jeder einzelne sein Leid nachweisen müsse, würden wiederum viele vor das Problem der Verjährung gestellt.
Eine sogenannte Folgenlösung, wie sie der Runde Tisch nahelege, konzentriere sich auf Schäden der Opfer, die heute noch nachzuweisen seien, sagte Wapler. Dieses Vorgehen habe den Vorteil, dass Opfer ihr individuelles Leid nicht bis ins Detail nachweisen müssten.
Die Wissenschaftlerin kritisierte aber eine aus ihrer Sicht mangelnde Abstimmung mit dem Runden Tisch ”Sexueller Missbrauch“. Die Gleichbehandlung beider Opfergruppen im Hinblick auf materielle Anerkennung müsse gewährleistet werden.
Es sei außerdem empfehlenswert, die Zahl der Jahre, in denen Kinder misshandelt worden seien, nicht künstlich zu begrenzen. Zwar habe es in den siebziger Jahren einen Umbruch in der Erziehung der Heimkinder gegeben. Eine Misshandlung sei aber auch in den achtziger Jahren möglich gewesen und müsse ebenfalls entschädigt werden.
Dr. Hans-Siegfried Wiegand lobte insbesondere den Antrag der Linksfraktion, der eine pauschale Entschädigung der Opfer vorsieht. ”Ich möchte davon ausgehen, dass dies kein politisches Strohfeuer ist“, sagte er mahnend. ”Es wäre verantwortungslos, bei uns Hoffnungen zu wecken, die unerfüllbar sind.“
Ralf Weber, Vertreter des Opferbeirates des Geschlossenen Jugendwerkshofes Torgau in der ehemaligen DDR, lobte das Ansinnen des Bundestages, auch Heimkinder aus der DDR zu entschädigen. Er empfahl den Abgeordneten, den Zeitraum für Betroffene bis 1990 auszudehnen. In der DDR sei das Unrecht nicht in den siebziger Jahren zu Ende gewesen.
Weber bezeichnete eine monatliche Rente von 150 Euro als Grundleistung für angemessen. In Torgau seien die Kinder und Jugendlichen noch schlimmer drangsaliert worden als in anderen Heimen. Nach seiner Ankunft habe er, wie alle anderen auch, stundenlang nackt auf dem Flur stehen müssen. Der Direktor habe ihn zu einem sechsstündigen Strafsport-Programm gezwungen, nach dessen Ende seine Kleidung komplett blutverschmiert gewesen sei.
Mädchen, die ihre Periode hatten, seien gezwungen gewesen, sich vor den Augen der männlichen Erzieher Tampons einzuführen. ”Es hat mein Leben über 20 Jahre beeinflusst. Ich kenne Leute, die haben sich bis heute nicht erholt“, so Weber.
Norbert Struck vom Paritätischen Gesamtverband sagte, der Verband arbeite daran, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und Strukturen zu schaffen, die den Missbrauch künftig schwerer machen. ”Eine zentrale Erfahrung der Opfer ist die Ohnmachtserfahrung“, sagte Struck.
Wichtig sei das ”Herstellen von Öffentlichkeit“ und Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche zu finden, die den Betroffenen zur Seite stehen. Auch gelte es den Grundsatz, Kinder seien gewaltfrei zu erziehen, und seine Konsequenzen noch stärker zu beachten und dafür Umgangsformen zu entwickeln. (ske)