Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2012
Die vom Bundestag und vom Thüringer Landtag zum sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) eingesetzten Untersuchungsausschüsse wollen gegenüber den Innenministern der Länder mit Nachdruck darauf pochen, dass den Parlamentariern alle Unterlagen zur Verfügung gestellt werden, die für die Aufklärung der dem NSU zugerechneten Mordserie nötig sind. Nach einem Treffen der beiden Gremien am Donnerstag, 1. März 2012, in Berlin kündigte Sebastian Edathy, Vorsitzender des Bundestagsausschusses, einen gemeinsam verfassten Brief mit entsprechenden Forderungen an die Innenministerkonferenz an. „Wir haben einen Anspruch auf Amtshilfe“, sagte der SPD-Abgeordnete.
Auch aus Sicht der Thüringer Vorsitzenden Dorothea Marx (SPD) ist eine solch umfassende Unterstützung geboten, um die zentrale Frage erhellen zu können, wie der NSU-Hintergrund der Morde jahrelang habe verborgen bleiben können und wie es unbemerkt zur Herausbildung der NSU-Strukturen habe kommen können.
„Wir erwarten die bestmögliche Unterstützung durch die Innenminister“, betonte Hartfrid Wolff, FDP-Obmann im Bundestagsgremium. Petra Pau, Sprecherin der Linken, drang darauf, die Aufklärungsarbeit möglichst öffentlich stattfinden zu lassen. Grünen-Obmann Wolfgang Wieland sagte, man wolle die Herausgabe von Akten gegenüber den Innenministern „notfalls einklagen“.
Bei ihrem Treffen vereinbarten die beiden Ausschüsse zur Vermeidung von Doppelarbeit, „an einem Strang zu ziehen“ (Edathy) und „Arm in Arm vorzugehen“ (Marx). Clemens Binninger, Unionssprecher im Berliner Gremium: „Wir wollen miteinander, nicht gegeneinander arbeiten.“
Laut Edathy wird geprüft, ob sich die beiden Ausschüsse gegenseitig ein Besuchsrecht und eine gegenseitige Einsichtnahme in die Protokolle einräumen. Auch die inhaltliche Arbeit soll aufeinander abgestimmt werden. So durchleuchtet das Bundestagsgremium, wie Edathy und Binninger erläuterten, zunächst die Zeitspanne zwischen 2000 und 2007, in der die Morde passierten. In Erfurt widmet man sich hingegen zuerst den Geschehnissen in den neunziger Jahren. Edathy: „Wir wollen dann in einigen Monaten auf die Thüringer Erkenntnisse zurückgreifen.“
Anders als der Bundestagsausschuss plant die Erfurter Kommission eine Vernehmung von Beate Zschäpe, die zum NSU-Trio gehört hat. „Sie müsste eigentlich alles wissen“, begründete Marx diese Vorladung. Allerdings sei unklar, ob Zschäpe auch aussagen werde.
Edathy hatte den Verzicht auf einen Auftritt Zschäpes kürzlich mit dem Argument gerechtfertigt, man wolle keine „Show-Veranstaltung“. Die Befragung von Zeugen mache keinen Sinn, wenn diese schweigen würden. Zschäpe, die in U-Haft sitzt, hat wegen der gegen sie laufenden strafrechtlichen Ermittlungen ein Aussageverweigerungsrecht.
Laut Edathy will das Bundestagsgremium am 8. März bei einem Gespräch mit der Bund-Länder-Kommission, die sich ebenfalls mit der NSU-Thematik befasst, die Tätigkeit dieser beiden Ausschüsse aufeinander abstimmen. Für diesen Tag ist zudem die erste öffentliche Anhörung des Bundestagsgremiums geplant. Zu Wort kommen sollen Barbara John, Ombudsfrau der Regierung für die Angehörigen der Opfer der mutmaßlichen NSU-Taten, sowie Vertreter von Opfergruppen.
Aufgrund einer Initiative der oppositionellen Fraktionen von SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen soll auch Sachsen einen Untersuchungsausschuss erhalten, den der Landtag am 7. März einsetzen soll. Recherchieren soll dieses Gremium vor allem, warum die NSU-Zelle in Sachsen unerkannt untertauchen konnte.
Der auch als Zwickauer Terrorzelle bezeichneten NSU-Gruppe werden neun Morde an türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie die Tötung einer Polizistin und mehrere Banküberfälle angelastet. Rätselhaft ist vor allem, wieso das NSU-Trio und seine Helfer über 15 Jahre lang im Untergrund aktiv sein konnten und Polizei wie Geheimdienste nicht gegen sie einschritten.
Die Aufklärung dieses Versagens markiert den Kernauftrag der Untersuchungsausschüsse. Dazu gehört auch die Frage, welche Rolle V-Leute des Geheimdienstes im Umfeld des NSU-Geflechts spielten. Letztlich sollen Vorschläge erarbeitet werden, wie die Struktur und die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten auf der Ebene von Bund und Ländern verbessert werden können. (kos)