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Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Schadt,
sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes,
sehr geehrter Herr Bundesminister,
sehr geehrter Herr Präsident Führer,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
wir gedenken heute der Opfer von Krieg, Terror und Gewalt. Wir erinnern an das Unrecht der Willkürherrschaft und an die Schrecken bewaffneter Auseinandersetzungen, an das Leiden der Menschen, die gedemütigt, verfolgt, verschleppt, vertrieben, verwundet oder getötet wurden. Ihnen, ihren Angehörigen und Hinterbliebenen ist dieser Tag, ist der Volkstrauertag gewidmet.
Wir können dankbar sein, dass auch heute noch Menschen leben, die von den Schrecken des Krieges aus eigener Erfahrung berichten können, so wie wir vorhin die bewegenden Worte des Zeitzeugen Heinrich Pankuweit über seine Erlebnisse als Soldat in Frankreich in den Jahren 1944 und 45 gehört haben.
Mich hat auch sehr die Lesung von Alexandra Simtion beeindruckt, die hier stellvertretend für 20.000 Jugendliche steht, die der Volksbund jährlich über den Kriegsgräbern zusammenbringt. Die Jugendlichen haben die Schrecken des Krieges nie erlebt. Sie sehen aber die Folgen auf den Friedhöfen und nehmen sie als Vermächtnis der Toten zum Frieden an.
Erinnerung und Mahnung dürfen nicht nur Thema eines Tages und einer zentralen Gedenkstunde hier im Deutschen Bundestag sein. Es ist eine für uns alle nie endende Aufgabe, an die Opfer zu erinnern, auf die Ursachen für die schrecklichen Ereignisse hinzuweisen und daraus Lehren zu ziehen.
Jede neue Generation muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft entsprechend gestalten zu können. Hier stehen wir – jeder einzelne von uns, ob jung oder alt – in der Verantwortung.
In diesem Sinne gedenken wir heute nicht nur der Opfer vergangener kriegerischer Auseinandersetzungen, sondern auch der Menschen, die in aktuellen Konflikten Opfer von Gewalt und Willkür geworden sind. Unsere Gedanken sind heute auch bei den Angehörigen und Freunden der Bundeswehrsoldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer, die in den vergangenen Jahren in Afghanistan und bei anderen Einsätzen getötet und verletzt wurden. Ihnen gilt unsere besondere Anteilnahme.
Vor kurzem hat der heute 90 jährige Edmund Schmidt aus Braunschweig dem Deutschen Bundestag ein Gedicht übermittelt, das er 1941 als schwer verwundeter Soldat in Russland an seine Angehörigen geschickt hat. Das Gedicht mit dem Titel "Winter 1941/1942" beschreibt Einsamkeit, Angst, Trauer und Sehnsucht der Soldaten an der Front. Ich zitiere auszugsweise:
"Ihre grauen Münder sprechen kaum, da es nichts zu sagen gibt,
und die Augen vor dem Niemandsraum haben lang nicht mehr geliebt.
Da erschauerst du und gehst allein zögernd hin zu Kreuz und Grab,
weinst dann tief in dich hinein, weil dir niemand eine Antwort gab.
Wieder ziehen graue Wolken her und der Wind rauscht es dir zu:
Hier hat niemand eine Heimat mehr!
Glaub an sie - und bete du!"
Für mich ist es sehr eindrucksvoll, dass Edmund Schmidt bei all den erlebten Schrecken des Krieges Trost im Gedanken an die Menschen in der Heimat und in seinem Glauben findet.
Das Gedicht zeigt weiter - wie auch die heutige Lesung von Heinrich Pankuweit -, dass Leid eines einzelnen Menschen auch immer Leid für Angehörige und Freunde bedeutet.
An diese Botschaft erinnert uns eindringlich die Skulptur "Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz in der Neuen Wache in Berlin. An dieser zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg wurden am heutigen Volkstrauertag Kränze der Verfassungsorgane niedergelegt.
Käthe Kollwitz hat das Leid von Angehörigen am eigenen Leib erfahren. Im Ersten Weltkrieg starb ihr Sohn in Flandern, im Zweiten Weltkrieg ihr Enkel in Russland. Sie selbst sagte einmal: "Die eigentlichen Verlierer der Kriege sind immer die Eltern, die Frauen, die Mütter" und ich füge hinzu: die Kinder. Die von ihr geschaffene Skulptur "Mutter mit totem Sohn" macht den Schmerz der Angehörigen für den Betrachter fast greifbar. Gerade für die Angehörigen ist der zentrale Gedenktag heute ein wichtiger Tag. Sie sollen sehen, dass sie mit ihrer Trauer und mit ihrer Fassungslosigkeit nicht alleine sind.
Gedenken und Erinnerung müssen uns aber auch Mahnung für die Zukunft sein: Der Philosoph und Schriftsteller Santayana hat diesen Grundgedanken eindrucksvoll formuliert: "Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es zu wiederholen." Gerade auch, weil es immer weniger Zeitzeugen gibt, ist der Volkstrauertag so wichtig.
Ich danke dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die Ausrichtung dieses Tages und für die aufopfernde und verantwortungsvolle Arbeit im Einsatz für den Frieden.
Der Volksbund kümmert sich weltweit um mehr als 800 Kriegsgräberstätten in 45 Ländern und damit um die letzen Ruhestätten von etwa 2,5 Millionen Kriegstoten. Dabei arbeitet er eng mit Partnerorganisationen vieler Länder zusammen. Ich freue mich, dass einige dieser Partnerorganisationen heute vertreten sind. Auch ihnen gilt unser besonderer Dank.
An Kriegsgräbern und Gedenkstätten finden seit vielen Jahren Jugendbegegnungen statt. Mit dieser Jugendarbeit, von der uns Alexandra Simtion heute anschaulich berichtet hat, setzt der Volksbund sein Motto "Versöhnung über den Gräbern" in die Tat um. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag für das Geschichtsbewusstsein der jungen Generation.
Der Volkstrauertag lässt uns innehalten und der Opfer von Krieg und Gewalt gedenken. Eine der wichtigsten Lehren aus der Vergangenheit ist die deutsch-französische Aussöhnung. Sie ist die Basis eines einzigartigen und dauerhaften Friedens- und Integrationsprozesses in Europa. Deshalb freue ich mich, dass der Volksbund die deutsch-französische Freundschaft heute besonders würdigt.
In diesem und im kommenden Jahr erinnern wir uns an entscheidende Wegmarken der deutsch-französischen Freundschaft. Im Juli gedachten wir – wie schon Präsident Führer bemerkt hat – der geschichtsträchtigen Versöhnungsmesse, die 1962 in Reims in Anwesenheit von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle stattfand.
Im Januar werden wir den 50. Jahrestag des Abschlusses des Élysée-Vertrages mit einem deutsch-französischen Tag feiern. Die guten Beziehungen und die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich sind heute in den Köpfen und – noch wichtiger – in den Herzen der Menschen fest verankert.
Die Geste der Versöhnung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Francois Mitterand über den Gräbern von Verdun im Jahr 1984 war ein weiteres sehr eindrucksvolles Zeichen für diese Aussöhnung. Das unselige Wort "Erbfeindschaft", das zwischen unseren beiden Völkern stand, ist Vergangenheit. Partnerschaft und Freundschaft, offene Grenzen und selbstverständliche Begegnungen bestimmen heute unser Verhältnis.
Ebenso eindrucksvoll und wegweisend war der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt am Ehrenmahl der Helden des Ghettos in Warschau im Jahr 1970. Diese Geste sollte allen polnischen Opfern deutscher Gewaltherrschaft gelten. Sie war ein maßgeblicher Schritt auf dem Weg zur deutsch-polnischen Aussöhnung. Deutschland hat heute nicht nur zu Polen, sondern zu all unseren östlichen Nachbarn sehr gute Beziehungen, was mich mit großer Freude erfüllt.
"Nie wieder Krieg" – diese Sehnsucht ist in der Mitte Europas Wirklichkeit geworden und hat uns seit vielen Jahrzehnten Frieden gesichert. Dies war und bleibt die Grundlage der europäischen Einigung.
Die europäische Einigung sollten wir nicht als selbstverständlich ansehen. Die derzeitigen Diskussionen über die Zukunft Europas und des Euro haben bei dem Einen oder Anderen trotz aller friedlichen Entwicklungen längst verschüttet geglaubte Ressentiments wieder zum Vorschein gebracht.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns der Vision eines dauerhaft friedlich geeinten Europas verpflichtet fühlen. Deshalb müssen wir mit Zuversicht und Weitblick gemeinschaftlich an unserem "Haus Europa" weiterbauen.
Das "Haus Europa" ist auf ein starkes Fundament gebaut: Das Fundament sind die gemeinsamen Werte, die Europa bei all seiner Vielfalt und regionaler Besonderheiten einen. Es ist dieses Fundament, das unsere Freiheit und unsere Demokratie garantiert und das wir pflegen und verteidigen müssen.
Zur Vision eines starken Europas der Zukunft gehört auch die Stabilisierung unserer gemeinsamen Währung. Der Euro ist mehr als nur ein Zahlungsmittel. Er ist Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen Weges und hat damit gemeinschafts- und friedensstiftende Funktion.
Ich bin fest davon überzeugt: Nur ein wirtschaftlich und politisch geeintes Europa wird sich im globalen Wettbewerb behaupten können, nicht aber einzelne Nationalstaaten. Und nur ein geeintes Europa wird in der Lage sein, auf der Bühne der Weltpolitik ein angemessenes Gewicht in die Waagschale zu werfen. Letztlich wird das Projekt Europa darüber entscheiden, ob wir Europäer künftig in der Welt als aktive Mitspieler oder nur als Statisten auftreten.
Das "Haus Europa" in diesem Sinne weiter auszubauen, ist die Aufgabe unserer und der kommenden Generationen. Es ist an uns, das Bewusstsein der Jugend dafür zu stärken, wie wertvoll und unumkehrbar die europäischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sind.
Wir müssen trotz gelegentlicher Rückschläge die junge Generation immer wieder ermutigen, das Projekt Europa mit Zuversicht und Tatkraft fortzuentwickeln.
Eine solche Ermutigung ist ganz aktuell die Verleihung des Friedensnobelpreises an Europa. Ich verstehe dies nicht nur als verdiente Anerkennung für die europäischen Institutionen, sondern als Auszeichnung für jeden einzelnen europäischen Bürger für seinen Einsatz im Interesse der europäischen Sache.
Jeder von uns ist Teil der Friedensunion Europa. Darauf sollten wir stolz sein. Denn das ist das höchste Gut all unseres Strebens, dass Frieden zum Wohle der Menschen herrsche. Dieses hohe Gut auch für künftige Generationen zu bewahren, dazu mahnt uns der heutige Tag.