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Franz Müntefering sitzt abseits. Sein Büro ist irgendwo Unter den Linden, zwischen Madame Tussauds und Friedrichstraße. Die Lampen an der Decke vibrieren im Rhythmus des Autoverkehrs. Die große politische Musik spielt jedoch anderswo – mindestens zehn Fußminuten von hier entfernt. Einst gab Franz Müntefering dabei mit den Ton an, spielte als SPD-Parteivorsitzender die erste Geige. Das war bis 2009 so. Danach nahm Müntefering auf der Hinterbank Platz, stand nicht mehr an vorderster Front. Nach der Wahl im September 2013 verlässt er den Deutschen Bundestag ganz und gar.
"Ich bin gern hiergeblieben", sagt Müntefering und schaut sich in seinem Büro um. Er habe den langen Weg bis ins Reichstagsgebäude stets genossen. Dabei lernte Franz Müntefering im Laufe seines politischen Lebens viele – meist viel glanzvollere – Büros kennen. Schließlich war er Fraktionsvorsitzender der SPD, ihr Parteivorsitzender, stets der starke Mann hinter Kanzler Gerhard Schröder (SPD), und er wurde während der Großen Koalition unter Angela Merkel (CDU) Arbeits- und Sozialminister sowie Vizekanzler.
2009 dann die große Niederlage: Bei der Bundestagswahl erreichte die SPD nur noch 23 Prozent. "Danach konnte ich nicht vorn bleiben. Das war klar", sagt Franz Müntefering rückblickend. Er habe damals lange überlegt, ob er nicht ganz den Schlussstrich unter seine politische Karriere ziehen sollte. "Ich habe mich aber bewusst dafür entschieden, weiterzumachen. Ich glaube, auch in solchen Niederlagen sind wir klug zu wissen, dass der Höhepunkt irgendwann vorbei ist, man aber trotzdem noch wichtig ist."
Er suchte sich für seinen politischen Lebensabend ein Thema, welches er die letzten Jahre intensiv verfolgte. Franz Müntefering interessierte der demografische Wandel. Dabei forderte er immer wieder Nachhaltigkeit bei Entscheidungen: "Ich glaube, die Politik leidet darunter, dass wir zu kurzatmig denken und handeln."
Der heute 73-Jährige wählt seine Worte ruhig und mit Bedacht. Er bleibt bei dem, was er einmal gesagt und entschieden hat. Auch das ist eine Form von Nachhaltigkeit. Müntefering zählt neben Schröder und Frank-Walter Steinmeier (SPD) zu den Machern der Agenda 2010. Heute sagt Franz Müntefering klar: "Die Agenda war auch für Deutschland unglaublich wichtig." Und ergänzt: "Ich war ganz zufrieden, was wir damals gemacht haben. Ich finde, wir haben richtig was erreicht, sowohl mit der Agenda als auch später in der Großen Koalition."
Dass der SPD nun die Wähler fehlen, habe auch damit etwas zu tun, so Müntefering, dass man nicht mutig genug war, die eigenen Erfolge positiv darzustellen. "Wenn man sich versteckt, muss man sich nicht wundern, wenn nichts dabei herauskommt." Natürlich benötige man bei der Agenda-Politik deutliche Korrekturen, vor allem bei der Leiharbeit in Bezug auf den Mindestlohn. "Andere Dinge", so der SPD-Politiker, "müssen aber bleiben."
Dennoch: Man könnte meinen, dass die SPD sich immer mehr vom Agenda-Kurs verabschiedet – jetzt, wenn Franz Müntefering den Bundestag verlässt. Mit Klaus Wiesehügel holte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück einen ausgesprochenen Kritiker der Agenda 2010 in sein Kompetenzteam. "Ich traue ihm zu, dass er die nötige Souveränität hat, um in der Gesamtverantwortung Lösungen zu finden, die für das Ganze gut sind", sagt er nüchtern, um deutlicher zu ergänzen: "Man braucht eine prosperierende Wirtschaft und ökonomische Vernunft. Ich glaube, je nachdem wo man steht, wird sich der Blickwinkel verändern. Das wird allen so ergehen, die in der Regierung sind." Auch Klaus Wiesehügel. Denn in der ganzen Verantwortung merke man, dass neben Investitionen auch Anstrengungen unvermeidbar sind.
Der Mann mit dem bekannten rollenden R weiß, wovon er spricht. Mehr als 38 Jahre hat er Politik gelebt, 31 davon im Deutschen Bundestag. Er ist Profi im Parlamentsalltag, dabei waren seine Anfänge ganz profan. Im Sommer 1975 kam er als Nachrücker in den Bundestag. Eineinviertel Jahre vor der Wahl. Damals habe er genau überlegt, ob er dieses Risiko eingehen sollte. Er war schließlich bei einer Firma fest angestellt, hatte zwei kleine Kinder. Doch er tat es.
Eines seiner ersten Gespräche als Abgeordneter hatte er mit Herbert Wehner (SPD). Wehner habe Pfeife rauchend dagesessen und gesagt: "Fang mal an und pass auf, dass du nicht austrocknest", erinnert sich Franz Müntefering. Er lacht: "Ganz trocken bin ich heute auch noch nicht." Er habe noch immer Lust mitzugestalten, dabei ist das SPD-Urgestein im fortgeschrittenen Alter – selbst unter Politikern. Mit 73 Jahren geht er in den Ruhestand.
Franz Müntefering ist sozusagen das Gegenmodell der aktuellen SPD-Pläne, die einen früheren Renteneintritt vorsehen. Müntefering hat mit der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt, diese wollen die Sozialdemokraten nun aussetzen – so lange, bis mehr als die Hälfte der älteren Menschen in Arbeit sind. Dieses Kriterium hält der einstige Arbeitsminister bereits für erfüllt, deshalb könne man an dem Kurs festhalten. "Die Rente mit 67 ist zwar nicht von mir erfunden worden, aber ich stehe dazu." Er sei überzeugt, dass die Gesellschaft das Wissen und Können der Älteren braucht.
"Eines der größten Missverständnisse in der Gesellschaft ist, dass das Renteneintrittsalter als Austritt aus dem Leben in einen nicht näher definierten Zeitraum, der immer länger wird, verstanden wird", sagt er mit Nachdruck. Man benötige Aufgaben auch nach dem Austritt aus dem Berufsleben, um fit zu bleiben.
"Es ist die Neugier am Leben, die Liebe zum Leben, noch etwas tun zu wollen, sich zu bewegen. Das ist gut fürs eigene Wohlbefinden und die Gesundheit." Er hat sich bereits neue Aufgaben für die Zeit nach dem Parlament gesucht. Seit April ist er Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland. Zudem ist er Botschafter des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen und im Beirat der deutschen Hospiz-Palliativstiftung. "Ansonsten halte ich mich zurück", schmunzelt Müntefering.
Dafür möchte seine Frau Michelle nun in den Bundestag einziehen. Sie kandidiert im Wahlkreis Herne-Bochum II. Doch auf Tipps vom Ehemann wird Michelle verzichten müssen. "Ich möchte ihr möglichst wenig mit auf den Weg geben. Dass man mal über Politik spricht, ist ganz klar, aber wir machen keine Lehrstunden oder Küchenkabinette."
Auch ob er ihr sein Büro vermache, sollte sie ins Parlament einziehen, sei noch nicht ausgehandelt worden. "Ob die hier freiwillig einzieht, weiß ich nicht", lacht er. Schließlich ist es weit weg vom großen politischen Treiben. Michelle solle ihren eigenen Weg finden. Dies sei wichtig in der Politik. Er habe immer die Selbstbestimmung des Menschen betont, sagt Müntefering nach einigem Zögern.
Die lange Pause nach der Frage ist charakteristisch. Franz Müntefering ist kein Freund der großen Worte über sich selbst. Er gibt sich bescheiden. "Ich glaube, dass viele das hätten machen können, was ich gemacht habe." Vieles in seiner Karriere sei reiner Zufall gewesen. Er war eben zur richtigen Zeit am richtigen Ort. (ldi/26.08.2013)