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Heftige Kontroversen über die Ukraine-Politik zwischen der Linken und den übrigen Fraktionen prägten die Debatte über eine außenpolitische Regierungserklärung der Bundeskanzlerin am Mittwoch, 4. Juni 2014. Aber auch die bevorstehende Nominierung des neuen EU-Kommissionspräsidenten sorgte für Zündstoff.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) stellte in ihrer Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Informellen Abendessens der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten am 27. Mai in Brüssel sowie zum G7-Gipfel am 4. und 5. Juni in Brüssel zunächst die vielfältigen Aufgaben dar, die auf der Ebene der EU sowie der sieben führenden westlichen Industrienationen anstehen.
Merkel sprach von einer ermutigenden Entwicklung der Weltkonjunktur. Man dürfe aber „nicht übersehen, dass jedes noch so gute Wachstum auf tönernen Füßen stehen würde, wenn wir nicht weiter konsequent daran arbeiten, die Lehren aus verheerenden weltweiten Finanzkrise von 2008 und 2009 zu ziehen“. Noch seien Regulierungslücken zu schließen, sagte die Bundeskanzlerin und fügte hinzu: „Mit der Entfernung zur Krise werden die Beschlüsse eher beschwerlicher.“
Das später am Tag beginnende G7-Treffen finde mit Blick auf den G20-Gipfel im November im australischen Brisbane statt. Dort werde es vor allem um eine strenge Regulierung von Schattenbanken gehen, sonst würde es „Ausweichbewegungen von den Banken auf die Schattenbanken“ geben und „die Finanzmarktregulierung wäre wieder außerordentlich lückenhaft“.
Als weitere Themen des G7-Gipfels nannte Merkel den Abschluss der Doha-Welthandelsrunde, einen erfolgreichen Weltklimagipfel in Paris Ende 2015 - „ein zweites Scheitern wie in Kopenhagen können wir uns nicht leisten“ - sowie die Entwicklung einer Agenda für eine nachhaltige globale Entwicklung nach Auslaufen der UN-Millenniumsziele 2015.
Man könne angesichts dieser Tagesordnung meinen, sagte Merkel, es handele sich um einen ganz normalen Gipfel. Dass dies nicht so sei, werde schon dadurch deutlich, dass es erstmals seit 16 Jahren wieder ein G7-Gipfel ist. Merkel nannte die Ausladung des bisherigen G8-Mitglieds Russland von dem Brüsseler Treffen „unumgänglich“ angesichts dessen Vorgehens auf der Krim.
Die Bundeskanzlerin begrüßte die Wahl des künftigen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko „mit einer beeindruckenden Mehrheit bereits im ersten Wahlgang“, den „glücklicherweise nur sehr geringen Zulauf“ radikaler Kandidaten sowie die von Poroschenko umgehend angekündigten inneren Reformen. Von dem Abendessen der EU-Staats- und Regierungschefs am 27. Mai sei ein „Signal der Unterstützung“ für Poroschenko ausgegangen, und ein solches werde auch beim G7-Gipfel erfolgen.
Die Bundesregierung verfolge seit dem Beginn der Ukraine-Krise eine „Politik des Dreiklangs“, sagte Merkel. Neben der „gezielten Unterstützung der Ukraine“ stehe als zweites „das unablässige Bemühen, im Dialog mit Russland diplomatische Lösungen in der Krise zu finden.
Wenn aber Russland weiterhin seine Grenzen nicht ausreichend kontrolliere und „in großem Umfang Kämpfer und Munition in den Südosten der Ukraine gelangen können“, werde man „sich nicht scheuen“, und das sei der dritte Teil des Dreiklangs, „weitere Sanktionen zu verhängen“.
Zur anstehenden Nominierung eines Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, den der Rat der Staats- und Regierungschefs dem Europaparlament zur Wahl im zweiten Halbjahr vorschlagen muss, betonte Merkel ihre Unterstützung für Jean-Claude Juncker.
Heftig kritisierte sie aber, „mit welcher Lockerheit manche darüber sprechen, dass es eigentlich gleichgültig sei, ob Großbritannien nun zustimme oder nicht, mehr noch, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibe oder nicht“. Großbritannien sei „wahrlich kein bequemer Partner“, aber Europa habe Großbritannien auch viel zu verdanken, sagte Merkel unter Verweis auf dessen Rolle bei der Befreiung vom Nationalsozialismus.
Deshalb führe sie ihre Gespräche „gerade auch mit Großbritannien in dem europäischen Geist, der uns Europäern über mehr als fünf Jahrzehnte immer wieder geholfen hat, bestmögliche Ergebnisse für alle zu finden“, erklärte Merkel. Gute Ergebnisse „brauchen Zeit, die haben wir und deshalb nutze ich sie“.
Die Erwiderung von Dr. Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke, zeichnete ein Bild der Lage in Europa, wie es gegensätzlicher kaum sein könnte. Mit einem Habermas-Zitat sprach sie von einer „hochgefährlichen halbhegemonialen Stellung, in die Deutschland wieder hineingerutscht ist“, und warf Merkel vor, andere EU-Länder wie Frankreich von oben herab zu behandeln.
Für das Erstarken rechtsextremer Kräfte bei der Europawahl machte Wagenknecht die Kanzlerin und ihre Politik der Krisenbewältigung verantwortlich. „Wenn das nicht als Weckruf taugt, dass es in Europa nicht so weitergehen kann wie bisher, worauf wollen Sie dann noch warten“, fragte Wagenknecht. „Darauf, dass Frau Le Pen französische Präsidentin wird?“ Wenn die Krisenlasten nicht endlich von denen getragen würden, die von ihr profitiert hätten, und die Armut weiter wachse, „dann scheitert Europa. Und das ist dann auch Ihre Mitverantwortung, Frau Bundeskanzlerin.“
In der Ukraine sei Europa schon gescheitert, leitete Wagenknecht zum Hauptthema ihrer Rede über. Die Bundesregierung unterstütze dort heute „eine Regierung, der vier Minister einer offen antisemitischen und offen antirussischen Nazipartei angehören. Eine Regierung, die den Konflikt erst richtig angeheizt hat und heute brutal Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt.“
Den designierten ukrainischen Präsidenten Poroschenko bezeichnete Wagenknecht als einen „Oligarchen, der dem früheren Staatschef Janukowitsch an Korruption und Gangstertum und krummen Geschäften in nichts nachsteht“. Wagenknecht charakterisierte die Ukraine-Politik des US-Präsidenten als „militärische Provokation“ und forderte die Bundesregierung auf: „Lösen Sie sich endlich aus dem Schlepptau dieser US-Kriegspolitik.“
Der SPD-Europapolitiker Axel Schäfer antwortete sehr erregt auf diese Rede. Es sei inakzeptabel, „Politik, die wir in Deutschland machen, in irgendeiner Weise damit in Zusammenhang zu bringen, dass faschistische und fremdenfeindliche Kräfte erstarken“. Dies sei weder die Politik der Union noch der Grünen noch der Sozialdemokraten. Genauso inakzeptabel und unredlich sei es, „ständig über Kriegsfragen hier zu reden, wo alle Fraktionen in diesem Haus, wo alle Mitglieder aller Fraktionen, wo alle in der Regierung sich klar gegen militärische Lösungen ausgesprochen haben“.
Schäfer begrüßte es, dass Bundeskanzlerin Merkel am Rande der Feier des Jahrestages der Invasion in der Normandie mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin reden wolle. Und er dankte den Abgeordneten aller Fraktionen, auch der Linken, die am 25. Mai als Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine waren.
Auch Katrin Göring-Eckardt, Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen, kritisierte Wagenknecht heftig. Sie habe „kein Wort zur Krim“ gesagt und „kein Wort über den Exodus der Tataren“. Und dass rechtsextreme Kandidaten bei der Präsidentenwahl in der Ukraine „nicht einmal zwei Prozent gewonnen“ haben, solle sie „wenigstens zur Kenntnis nehmen, auch wenn es an Ihrem Weltbild kratzt“.
Göring-Eckardt ging aber auch mit der Bundeskanzlerin hart ins Gericht. „Was haben Sie uns eigentlich sagen wollen zur Wahl des Kommissionspräsidenten“, fragte sie Merkel. Es habe nach der Europawahl „fünf Tage gedauert, dass Sie den Namen Juncker überhaupt in den Mund genommen haben“, und sie stehe auch jetzt nicht ohne Wenn und Aber hinter dem Kandidaten fast aller Fraktionen im Europaparlament.
Es müsse „Schluss sein mit Hinterzimmerpolitik“, rief Göring-Eckardt. Sie zog einen Vergleich mit der Bundestagswahl 2005, als der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder der Wahlsiegerin Angela Merkel den Anspruch abstritt, Kanzlerin zu werden: „Das ist regelrecht schröderesk, was Sie hier machen, Frau Merkel.“
Zu einer erneuten heftigen Kontroverse kam es, als Sevim Dağdelen (Die Linke) in einer Kurzintervention die Argumente Wagenknechts bekräftigte und Göring-Eckardt das Brecht-Zitat vorhielt: „Wer die Wahrheit nicht weiß, ist bloß ein Dummkopf. Aber wer die Wahrheit kennt und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) nannte es eine „Form militärischer Intervention Russlands in der Ukraine“, dass jeden Tag Militärkonvois unbehelligt von russischen Grenztruppen einsickerten.
An Polen und Balten gerichtet, die sich durch die russische Politik bedroht fühlen, versicherte Schockenhoff: „Deren Sorgen sind auch unsere Sorgen.“ (pst/04.06.2014)