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Nur von der Ostlobby aus – dem Flur vor dem Plenarsaal auf der Ostseite des Reichstagsgebäudes – ist eine kleine digitale Uhr auf Augenhöhe sichtbar. Neben diese Uhr passt ein Schlüssel, der an jedem Sitzungstag eine Art „Initialzündung“ für das ist, was später in den Medien als „verbaler Schlagabtausch“, als „Debatte“ oder im Idealfall als „rhetorisches Feuerwerk“ beschrieben wird. An dieser Stelle wird der berühmte Gong im Bundestag ausgelöst, das Zeichen für die Parlamentarier im Saal: Gleich kommt der Präsident, gleich beginnt die Sitzung des Deutschen Bundestages.
Um 8.54 Uhr klingelt es donnerstags in einer Sitzungswoche wie in der Schule. Noch sechs Minuten. Abgeordnete kommen ruhig aus einem der vier großen Fahrstühle, die links und rechts des Bundesadlers die Ebenen des Reichstagsgebäudes verbinden. Andere hüpfen energiegeladen die beiden sich gegenüberliegenden Freitreppen hinauf, die vom Ostportal am Friedrich-Ebert-Platz zum Plenarsaal führen.
Über zwei Eingänge gelangen die Parlamentarier von der Ostlobby in den Plenarsaal. Von hier aus teilt sich das Parlament in links und rechts wegen der kürzesten Wege zum Sitzplatz im Saal. Angehörige der Fraktion Die Linke oder Mitglieder des Bundesrates kommen über „Südost“ (wenn man hinter dem Bundesadler steht, von links) Unionsmitglieder und Regierungsangehörige über „Nordost“ (also rechts hinter dem Adler).
In Sichtweite dieser Eingänge, auch auf dem Flur der Ostlobby, stehen schwarze Ledercouchensembles. Wer hier sitzt, blickt auf die kyrillischen Schriftzeichen, mit denen sich russische Soldaten zum Kriegsende 1945 verewigten. Ein paar Meter höher verlaufen offen durch den Raum die Gänge der Besucherebene, ein architektonischer Ausdruck der Nähe zwischen Volk und Volksvertretern.
Neben einer der Ledercouches wartet kurz vor 9 Uhr ein Abgeordneter mit einem angespannt wirkenden Gast. Der Gast entpuppt sich als ein Bürgermeisterkandidat, der ein Foto mit der Bundeskanzlerin machen möchte. Um 8.56 Uhr taucht die Regierungschefin in Fliederfarben und bestens gelaunt auf.
Routiniert übernimmt sie die Regie: hier aufstellen, dort in die Kamera lächeln, einmal Händeschütteln, nach wenigen Sekunden ist der Termin erledigt. Im Losgehen noch eine interessierte Frage nach der Heimatregion des Lokalpolitikers und ein aufmunterndes „viel Glück“, dann Abgang ins Plenum, auf die Regierungsbank. Die Sitzgruppen füllen sich derweil mit Sicherheitsleuten und Mitarbeitern, die ab jetzt auf ihre Chefs warten.
Um 8.59 Uhr ertönt noch einmal dieses „Schulklingeln“. Über „Nordost“ schreitet auf die Minute genau derjenige heran, auf den drinnen alle warten: Der Bundestagspräsident, der jede Sitzung des Plenums eröffnet und leitet. Für ihn gibt es einen eigenen Zugang in den Saal.
Zwischen zwei großen Säulen geht er genau in der Mitte der Ostlobby, unter den Schwanzfedern des Bundesadlers, durch eine für Präsidiumsmitglieder markierte Glastür. Wenn der Präsident unter dem Adler bereit steht, löst eine Plenarassistentin mit jenem Schlüssel neben der kleinen Uhr den Gong im Plenarsaal aus. Das Signal für alle im Saal, sich von den Plätzen zu erheben.
Kann sich auch ein Bundestagspräsident mal ein paar Minuten verspäten, sodass sich der Sitzungsbeginn verzögert? Unter den Plenarassistenten kursiert die Anekdote eines früheren Hausherren, der zu seiner Zeitrechnung einmal gesagt habe: „Es ist immer dann 9 Uhr, wenn ich die Sitzung eröffne.“
Donnerstag früh, ab 9 Uhr in einer Sitzungswoche, das ist die sogenannte „Kernzeit“ im Plenum. Hier werden prominente Themen besprochen. Die Fraktionsvorsitzenden legen ihren Mitgliedern vollzählige Präsenz nahe. Während der Präsident drinnen einigen Abgeordneten zu ihrem Geburtstag gratuliert, und den ersten Rednern das Wort erteilt, herrscht draußen Kommen und Gehen.
Wie in einem Bienenhaus schwärmen immer wieder Abgeordnete aus, zu anderen Sitzungen und Terminen, andere gehen mit Papierstapeln unter dem Arm hinein. Ein Ministeriumsbediensteter vom Parlaments- und Kabinettsreferat rennt telefonierend auf und ab.
Der Zugang zur Ostlobby ist jenen vorbehalten, die mit dem Plenarbetrieb direkt zu tun haben. Von ihren Tischen aus, die seitlich zu den Eingängen in den Plenarsaal postiert sind, weisen die dunkelblau kostümierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung Besuchergruppen höflich darauf hin, dass sie einen Bogen um die Ostlobby machen mögen, um den Plenarablauf nicht zu beeinträchtigen.
Die Plenarassistentinnen und -assistenten sind über den Ablauf drinnen im Saal genauestens im Bilde. Der sogenannte „Meldetisch“, direkt hinter dem Bundesadler, ist der Dreh- und Angelpunkt für alle Informationen rund um den Plenarbetrieb. Wird die Sitzung unterbrochen, erfährt man hier etwas über die Gründe.
Muss sich ein Abgeordneter für die Sitzung entschuldigen, bekommt er hier das passende Formular. Dokumente und Nachrichten, die nach „drinnen“ zu einem MdB gelangen sollen, laufen zunächst hier auf. Ein eigenes Telefon fungiert als „heißer Draht“ zwischen hier draußen, hinter den Kulissen, und der Sitzungsleitung drinnen, die hinter dem Präsidenten zu sehen ist.
Zur Treppenbrüstung hin türmen sich auf einem langen Tisch rund 30 Papierstapel mit Drucksachen, über die heute beraten wird. Werden Tagesordnungspunkte gestrichen, verschwindet auch der dazu gehörige Drucksachenstapel. In einem abgetrennten Raum, oberhalb der Treppe, führt eine Abgeordnete ein Gespräch „am Rande des Plenums“, wie es unter den Parlamentariern heißt.
Oft der einzige verlässliche Ort, um sich an einem Plenartag sicher zu verabreden. Die Büros der Abgeordneten sind bis zu 15 Minuten weit entfernt. Schon diese Distanz kann einen Termin im Büro an einem turbulenten Sitzungstag mit vielen Abstimmungen gefährden. Denn so minutiös geplant der 9-Uhr-Beginn ist, so unberechenbar ist der weitere Verlauf eines Sitzungstages. (tk/18.08.2014)