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Es gilt das gesprochene Wort
Es ist eine große Ehre, zum dritten Mal am Rednerpult des Bundestags stehen zu dürfen. 1974 redete ich zum Volkstrauertag. Am 2. Juli 1999, in Bonn, war ich der Letzte, der von dort sprach. Eingeladen von Wolfgang Thierse, hielt ich eine Rede am Tag der offenen Tür. Mein Thema sollte heißen „Bonn bleibt Bonn.“ Ich verlängerte es auf „Bonn bleibt Bonn... in Berlin!“ Dass es so gekommen ist, haben Sie ja vor wenigen Wochen bewiesen, als Sie die fünfundsechzig Jahre Bonner Grundgesetz gefeiert haben. Was das bedeutet – darüber später.
Es soll ja vom Ersten Weltkrieg die Rede sein. Am Anfang eines langen Beitrags über Europa in der FA. vom 21. Mai, hat der überzeugte Europäer Wolfgang Schäuble geschrieben,
La Grande Illusion, die große Illusion, ist der Titel des Meisterwerks von Jean Renoir (...) Große Illusionen gibt es viele in diesem Film. Wolfgang Schäuble rechnet dazu den Glauben, den guten Willen, die Werte und die Humanität - sie könnten Frieden bewirken. Ich werde dazu noch zu sagen haben, dass sie doch sehr hilfreich sein können. Eine weitere Illusion, heißt es dann , ist es zu glauben dass es (...) keinen weiteren Krieg auf europäischen Boden geben könne, weil die wirtschaftlichen Verflechtungen einfach zu groß seien...“
The Great Illusion (auf Deutsch erschienen als „Die falsche Rechnung“), so hieß auch ein Weltbestseller von 1910. Die Überzeugungskraft des Buches von Norman Angell war so groß, dass der Präsident der Stanford University noch 1913 sagen konnte: „ Der große Krieg in Europa, der ewig droht, wird nie kommen. Die Bankiers werden nicht das Geld für solch einen Krieg auftreiben, die Industrie wird ihn nicht in Gang halten, die Staatsmänner können es nicht. Es wird keinen großen Krieg geben“.
Und nun ist vor einem Jahrhundert der Erste Weltkrieg doch ausgebrochen. Wieso ? Wie? Durch wessen Schuld oder wenigsten durch wessen Verantwortung ? Auf all diese Fragen gibt heute eine Flut von Büchern unterschiedliche Antworten. Ich möchte eins hervorheben, weil sein großer Erfolg in Deutschland so etwas wie eine Wende im Bild der deutschen Öffentlichkeit bedeutet. Bisher gab es eine Art deutschen Masochismus. DIE Deutschen sind schon lange ein Sonderfall. Nicht nur sind sie kriegslüstern gewesen, sondern sie haben schon mindestens seit dem XIX. Jahrhundert die Juden vernichten wollen. Daniel Goldhagen, dessen Fälschungen bereits damals von der Kanadierin Ruth Birn gebrandmarkt worden waren, zog triumphal durch die Bundesrepublik, von allen gefeiert. Zeigte er doch, wie mörderisch DIE Deutschen schon immer gesinnt waren. Neuerdings sollte das unwissenschaftliche Buch „Das Amt“ beweisen, dass der Auswärtige Dienst, dass die Diplomaten schlechthin die Shoah mitverantwortet, mitgestaltet, mit durchgeführt hatten. Auch werden Studien verpönt, die zeigen, wie viele nicht-jüdische Deutsche jüdischen Deutschen auf mancher Art geholfen haben, denn DIE Deutschen waren ja Antisemiten.
Warum das unlogisch verallgemeinernde DIE „die Juden, die Moslems, die Franzosen... abzulehnen ist, soll noch nachher erläutert werden.
Aber nun kommt das Buch von Christopher Clark Die Schlafwandler und in Deutschland freut man sich zu lesen, dass die deutschen Regierungen nicht verantwortlicher waren als Andere, sogar etwas weniger. Also doch, jedenfalls in Bezug auf 1914, kein deutscher Sonderweg!
Nur, dass das Buch kritisch betrachtet werden muss; insbesondere in einem wichtigen Punkt. Bereits 1952 sind die Verbände der französischen und deutschen Geschichtslehrer zusammengekommen und haben einen hervorragenden gemeinsamen Text hervor gebracht. Über den Ersten Weltkrieg heißt es, alle seien mitverantwortlich gewesen, aber es habe eine deutsche Besonderheit gegeben: den Platz des Militärs in der Gesellschaft. In seinem großen Roman Der Untertan hat der moralisch bessere der Brüder Mann, nämlich Heinrich, die Hochzeitnacht seines Dietrich Hessling beschrieben:
Als sie schon hinglitt und die Augen schloss, richtete sich Dietrich nochmals auf... „Bevor wir zur Sache selbst schreiten, sagte er abgehackt, gedenken wir Seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers. Denn die Sache hat den höheren Zweck, dass wir seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.
Natürlich ist dies kein wissenschaftlicher Beweis des deutschen Militarismus, aber es gibt Schlimmeres. Am 3. Februar 1933, wenige Tage nach der Machtergreifung, spricht Hitler zu den Befehlshabern der Reichswehr. Im Protokoll steht nichts von einem Protest, obwohl der neue Reichskanzler gesagt hat: Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Möglichkeiten, vielleicht- und wohl besser- Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung.
Wesentlicher ist heute jedoch die schon alte Selbstverständlichkeit, mit der in Frankreich niemand mehr von deutscher Alleinschuld spricht. Im Gegenteil. Eins der jüngsten Bücher zu 1914 heißt schlicht: Die Schuld lag nicht bei Deutschland. So neu ist dies nicht. Anfang der sechziger Jahre, kurz nach dem Erscheinen des aufregenden, doch einigermaßen übertriebenen Werks von Fritz Fischer Griff nach der Weltmacht, führte ich den Vorsitz an der Sorbonne bei einem deutsch-französischen Dialog über den Kriegsbeginn. Mein Kollege und Freund Gilbert Ziebura aus Berlin sprach ausführlich über deutsche Verantwortung. Jacques Droz, großer Pariser Historiker, antwortete etwas aufgeregt, dass sein Gesprächspartner die französische Schuld völlig unterschätze! Dies nach einer langen Zeit gegenseitiger Vorwürfe und vier Jahrzehnte nach dem Schuld-Artikel des Versailler Vertrags!
Bereits letztes Jahr begann es in Frankreich mit der Erinnerung an 1914-1918. 2014 ist ein Überblick kaum möglich über die Veröffentlichungen, die Feierlichkeiten auf den ehemaligen Schlachtfeldern, die Reden von Regierungsmitgliedern oder von Bürgermeistern kleiner Örtlichkeiten. In Deutschland wird die Erinnerung viel weniger wachgehalten, viel weniger betrieben. Der Grund ist klar: Der Erste Weltkrieg bleibt in Frankreich la Grande Guerre –der Große Krieg. Die Zahl der Kriegsopfer war damals, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, ungefähr die gleiche auf beiden Seiten. Der Zweite Weltkrieg ist für Frankreich, mit ca. 600 000 Toten, weniger tragisch gewesen im Vergleich mit den sieben Millionen deutscher Verluste. Die deutschen Städte waren 1918 unversehrt, kein verkleinertes Deutschland hatte Millionen Vertriebene aufzunehmen.
Wenn man einem Ausländer erklären will, was der Große Krieg für Frankreich bedeutet hat, so braucht man ihn nur auf den Friedhof irgendeines Dorfs zu führen, vorzugsweise in der Bretagne. Warum dort? Weil es in dieser landwirtschaftlichen Gegend so gut wie keine Fabriken gab, dessen Arbeiter nicht an die Front geschickt wurden. Auf jedem Denkmal steht eine lange Liste der Gefallenen, oft mit mehreren Namen derselben Familie. Die Liste der Opfer von 1939-1945 ist überall kurz.
Die Frankreichs nach 1918 muss mit diesen Denkmälern in Verbindung gebracht werden. Das Wort sécurité, Sicherheit, bestimmte alles. Diese soll durch die Maginot-Linie gewährt werden. (Dass diese nicht bis zum Meer gehen konnte war die Schuld der belgischen Regierung mit Paul-Henri Spaak, die allzu sicher war, dass es diesmal keinen deutschen Durchmarsch geben könne).
Was einem bei den Besichtigungen auffallen sollte, das ist der seltene Bezug auf den Sieg. Die Trauer ist beinahe allgegenwärtig. Als Symbol dürfte das berühmteste Denkmal dienen. Es steht in Tréguier, Geburtsstadt von Ernest Renan, und wird La Pleureuse- die Weinende- genannt. Sie verkörpert alle Mütter und Ehefrauen, die Sohn oder Ehemann verloren haben. Und die während des Kriegs hart gearbeitet haben, um die Kinder zu ernähren, um das Feld zu bebauen, um die Ernte einzubringen. Übrigens sind sie dafür von Frankreich schlecht belohnt worden. Die deutschen Frauen durften ab 1919 wählen. Den Französinnen wurde dieses elementare Zeichen der Gleichheit erst Ende 1944 zuerkannt.
Der Begriff des ancien combattant,- des Kriegsteilnehmers oder Frontkämpfer- ist in Frankreich so schnell und so dauerhaft ein Wesenselement der nationalen Identität geworden, dass es bis heute durchgängig ein ministère (oder wenigstens ein Staatsekretariat) des Anciens Combattants gegeben hat – nach und nach bezogen auf den Zweiten Weltkrieg, dann auf die Kolonialkriege. Die Größe des Begriffs hat meine Mutter im Februar 1934 in Saint Germain en Laye erfahren. Mein Vater hatte eine Art Kindersanatorium einrichten wollen, ist aber sechs Wochen nach unserer Ankunft gestorben. Der Elektriker kam zu seiner Witwe. Ihr Mann hat eine große Rechnung hinterlassen. Aber er war ancien combattant. Ich war es auch. Nicht auf derselben Seite. Aber ancien combattant ist ancien combattant. Sie zahlen, wann Sie können. Sie haben Zeit.
Es war eine bewegende, eine ermutigende Erfahrung der Aufnahme von uns Immigranten! Ancien combattant war auch der Ministerpräsident Edouard Daladier. Als er sich vor Kriegsbeginn in einer Rundfunkansprache an Adolf Hitler wandte, so war klar, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, dass ein ehemaliger Schützengrabensoldat, der er gewesen war und der der Führer behauptete, gewesen zu sein (wir wissen seit kurzem, dass die Wahrheit eine andere war), einen neuen mörderischen Krieg entfachen wollte.
Die Nachkriegs-Literatur hat vor allem das große Leiden beschrieben. Erich-Maria Remarque mit Im Westen nichts Neues und Henri Barbusse mit Le Feu mögen als Beispiele genannt werden. Für mich allerdings wiegt ein anderes Buch schwerer. Ich habe es als Kind noch in Frankfurt gelesen und zitiere es ständig wieder. Es hieß Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua. Wie Sie wahrscheinlich nicht wissen, bezieht sich dieser Titel auf den Artikel 246 des Vertrags von Versailles :
Innerhalb von sechs Monaten (...) ist der Schädel des Sultans Makaua, der aus dem deutschen Schutzgebiet in Ost-Afrika entfernt und nach Deutschland gebracht wurde, von Deutschland der britischen Regierung zu übergeben.
Für diesen Schädel sind Tausende afrikanischer Soldaten auf den französischen Schlachtfeldern gefallen. Er soll im Buch auf den Unsinn so vieler „Ideale“ hinweisen, für die Soldaten aller Kriegsteilnehmer gestorben sind. Der amerikanische Titel sagt besser: No hero for the Kaiser! Ein polnischer Junge wird sozusagen Mitglied eines deutschen Regiments, wird Retter der Einheit und desertiert, weil er nicht als Held für Kriegsanleihen ausgenutzt werden will.
Eine Seite hat mich später besonders beeindruckt, so wie sie Rudolf Frank 1931 geschrieben hat. Ein deutscher Offizier kauft bei einem polnischen alten Juden ein. Als dieser erfährt, dass der Deutsche Jude ist und Soldat geworden ist, weil man nicht sagen soll, die Juden seien feig, da bekommt er die Antwort:
Ihr Deitschen werden kämpfen und siegen und zum Schluss werdet ihr haben verloren. (..). Und was würden dann sagen die Großmächtigen in Deutschland? Sie würden sagen: jetzt machen wir ä neuen Krieg, ä Krieg, der nix kostet und einbringt Geld; jetzt machen wir Krieg gegen die Juden im Land. Und dann werden sie Krieg machen gegen dich und all deine Leute und zerstören dein Haus und erschlagen dein Weib. Und das wird sein ihr Dank, dass du hast getragen den blutige Rock.
Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater den Entschluss, bereits 1933 auszuwandern, nicht gefasst hatte, nachdem er seine Kinderklinik verloren und von der Frankfurter Universität Vorlesungsverbot erhalten hatte, sondern als er aus dem Verein der EK1-Träger (Eisernes Kreuz Erster Klasse) ausgewiesen wurde. In Frankreich ist es den jüdischen anciens combattants ähnlich ergangen, nachdem im Oktober 1940 Marschall Pétain das erste, keineswegs von Hitler angeforderte antijüdische Gesetz unterzeichnete. Schon vor Hitler hieß es Knallt ab den Walther Rathenau. Die gottverdammte Judensau !
Dieser hatte vergeblich erhofft, als deutscher Disraeli anerkannt zu werden. In Frankreich ist Léon Blum vor und nach seiner Ernennung 1936 als Chef der Volksfrontregierung nicht nur wüst antisemitisch beschimpft, sondern auch schlicht zu Boden geschlagen worden. Der schöpferische Erziehungsminister Jean Zay, Sohn eines zum Protestantismus übergetretenen jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter, evangelisch getauft und erzogen, wurde am 20. Juni 1944 von der Milice, der französischen SS, als Jude ermordet . Und noch Pierre Mendes France als Regierungschef ist 1954 schlimmen antisemitischen Angriffen ausgesetzt gewesen. Also Antisemitismus nicht nur in Deutschland!
Und die Christen? Ich hätte dem Film Joyeux Noël! Von Christian Carion 2005 einen größeren Erfolg gewünscht. In der Weihnachtsnacht 1914 klettern deutsche, französische und schottische Soldaten aus ihren Schützengräben und feiern zusammen die Heilige Nacht. Der Film zeigt zwei Priesterfiguren. Der Militärseelsorger erlebt die Freude seines Lebens indem er Brot und Wein bei der versöhnenden Mitternachtsmesse erheben darf. Sein Bischof kommt daraufhin wütend an, bestraft ihn, verjagt ihn – und hält eine hasserfüllte Predigt, so wie alle deutschen und französischen Bischöfe der Zeit. Egal ob Katholiken oder Protestanten feierte man Siege, weil ja deutsche Christen so viele französische Christen getötet hatten und umgekehrt. Die Friedensversuche von Papst Benedikt XV wurden zurückgewiesen oder sogar verhöhnt. Ähnlich verhielten sich die Intellektuellen. Romain Rolland blieb eine Ausnahme. Die Kultur war auf der einen Seite, die Barbarei auf der des Feindes. .
Am 23. Januar 2003 haben das französische und das deutsche Parlament zusammen in Versailles getagt. Das schöne Symbol ist da nicht richtig hervorgehoben worden. Das freundschaftliche Treffen zeigte die Überwindung von zwei Kränkungen, nämlich die französische von 1871 und die deutsche von 1919. Zwischen beiden Ereignissen bestand aber ein großer Unterschied. 1919 bekamen die deutschen Vertreter einen Vertrag vorgelegt, in dem Reparationen mit Schuld verbunden waren. Otto von Bismarck und Alphonse Thiers haben es nach Tradition gemacht. Der Besiegte muss zahlen einfach, weil er verloren hat. Und Frankreich hat überpünktlich das vereinbarte Gold gegeben, das 1914 den Krieg Deutschlands mitfinanzieren konnte.
Das Versailler Diktat, nur unter den Siegern ausgehandelt, musste unter der Drohung einer Besetzung Deutschlands unterschrieben werden. Von „Weimar“. Weimar, das war der erste deutsche Schritt zu einer parlamentarischen Demokratie. Erst im Oktober 1918 hatte der Kaiser eine Regierung eingesetzt, die vor dem Reichstag verantwortlich war. Er tat es nur, um den Parteien die Schuld für die Niederlage zuweisen zu können. Im Rückblick müsste mehr Erstaunen empfunden werden über die Kontinuität des deutschen Wahlvolkes. 1912 bei der letzten Reichstagswahl vor dem Krieg, hatten SPD, Zentrum und Liberale zusammen 63,5 % der Stimmen auf sich vereinigt. Zur ersten Weimarer Versammlung erreichten, mit 75,4 % der Stimmen, diese demokratischen Parteien eine satte Mehrheit. Nur, dass es damit bald ein Ende haben sollte, so groß war der Druck von innen und auch von außen. Frankreich sah in Weimar nicht eine junge, helfenswerte Demokratie in Deutschland, sondern ein mit Misstrauen zu behandelndes Deutschland, dessen Regierungssystem vorübergehend demokratisch war. Von Einschüchterung zeugte schon der Artikel 3 der neuen Verfassung:
Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiss-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke.
Die Einschüchterung kam zunächst vom Generalfeldmarschall von Hindenburg, mit der Formel die deutsche Armee sei von hinten erdolcht worden. Das erlaubte dem bis 1933 immer mächtigeren Stahlhelm sich folgendermaßen zu definieren: Bund der schlachterprobten, unbesiegt heimgekehrten deutschen Frontsoldaten und der von ihnen zur Wehrhaftigkeit erzogenen Jungmannen.
Ohne die Behauptung, nicht besiegt geworden zu sein, kann man Roosevelt und Churchill nicht verstehen mit ihrer Forderung der bedingungslosen Kapitulation. Diesmal sollten die Deutschen, auf ihrem völlig besetzen Restgebiet einsehen, dass sie den totalen Krieg total verloren hatten. Eine Konsequenz dieser Haltung war allerdings die Weigerung, irgendeine Form eines deutschen Widerstands anzuerkennen. Trotz mancher Beweise, trotz mancher Versuche, Kontakte in Washington oder in London aufzunehmen.
Hier sind wir bei dem doppelten, heute immer noch nicht voll anerkannten Unterschied zwischen Weltkrieg I und Weltkrieg II – in deren Natur und in deren Nachkriegsrealität.
Warum geschah das alles? Warum diese furchtbaren Opfer? Die Antwort ist: Hitler wollte den Krieg. Sein Leben hatte keinen anderen Zweck als den Krieg. Er verwandelte unser Land in eine riesige Kriegsmaschine und jeder von uns war ein Rädchen darin.
So sprach Bundespräsident Walter Scheel in seiner ergreifenden Rede zum 8. Mai 1975 – noch menschlicher vielleicht als die zu Recht gerühmten Rede von Richard von Weizsäcker zehn Jahre später. Manche Texte von Adolf Hitler sollten in den deutschen Geschichtsbüchern stehen (sofern es noch Geschichtsunterricht als Pflichtfach gibt). Zum Beispiel zwei Ansprachen an seine Generäle und Minister:
Am 23. Mai 1939: Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen und bleibt der Entschluss, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.
Und am 22. August, während Ribbentrop nach Moskau fliegt: Wir brauchen keine Angst vor Blockade zu haben. Der Osten liefert uns Getreide, Kohle, Blei, Zink. (...) Ich habe nur Angst, dass mir noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt:
2015 und 2019 wird es keiner Flut von Büchern bedürfen, um zu erklären, um zu belegen wer 1939 mit offenen Augen den Krieg wollte. Dieser Krieg entsprach allerdings nicht dem Willen des deutschen Volkes schlechthin. Immer wieder werden die Bilder der Begeisterung gezeigt, die nach dem Einmarsch in Paris in Deutschland herrschte. Auch zuhause in Frankreich sage ich immer, dass diese Begeisterung doch verständlich war. Aber schon 1970 hatte Marlis Steinert in ihrem dicken Buch Hitlers Krieg und die Deutschen auf Grundlage der Gestapo-Berichten an die Reichsführung klar gezeigt, dass es mit der Kriegsbegeisterung nicht weit her war. Dazu kommt noch die Rede, die Hitler nach dem Münchener Abkommen an seine Zeitungsdirektoren richtete. Er habe bis jetzt den Frieden beschworen und die Bürger haben ihm das geglaubt. Nun müssten sie auf Krieg eingestellt und dazu aufgepeitscht werden.
Der zweite große Unterschied zwischen den beiden Weltkriegen, zwischen 1918 und 1945 besteht darin, dass die totale Niederlage ein total anderes Deutschland hervorgebracht hat. Vor einiger Zeit sollte ich eine Tagung des Institut français de relations internationales einleiten. Das Thema war, in Gegenwart des polnischen und des russischen Botschafters, „Wie kann es Versöhnung zwischen Polen und Russland geben?“ Die Frage an mich lautete: „Passt der Vergleich mit Frankreich und Deutschland?“ Meine Antwort war ein energisches Nein. Das Deutsch-Französische konnte nur gut gehen, weil die Bundesrepublik radikal anders war als das Hitler-Deutschland. Einem Russland, in dem schon wieder Stalin verherrlicht wird und das keine freiheitliche Demokratie kennt, mangelt es an echter Vergangenheitsbewältigung und somit an Bereitschaft zum echten Dialog.
Die Bundesrepublik ist und bleibt ein Sonderfall in Europa. Sie ist nämlich nicht auf dem Prinzip der Nation aufgebaut worden, sondern auf Grund einer politischen Ethik, die der doppelten Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und von Stalin in der Nachbarschaft. Das ist bis heute so geblieben. Leider hat das deutsche Beispiel die anderen Staaten und Nationen kaum angesteckt. Der Trend geht heute sogar in die andere Richtung! Leider auch bei Ihnen!
In Frankreich wie in Deutschland zitiere ich jedoch oft zwei Reden des ehemaligen christdemokratischen Verteidigungsministers Volker Rühe. 1995 weihte er die erste Kaserne der Bundeswehr in Berlin ein. Er verlieh ihr den Namen von Julius Leber, dem sozialdemokratischer Politiker, bereits 1933 niedergeschlagen, im Januar 1945 hingerichtet. Rühe sagte, die Ablehnung des Nationalsozialismus sei die geistige Grundlage der Bundeswehr. Einige Wochen später sprach er in Erfurt zu den Rekruten aus West und Ost. Er sagte Die Soldaten der Bundeswehr stehen für unsere demokratische Verfassung ein und übernehmen Mitverantwortung für Freiheit und Menschenwürde anderer.
Die Begriffe Vaterland und Nation wurden nicht angeführt. So sprach auch Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesset im Februar 2005:
Die Würde des Menschen ist unantastbar: diese Lehre aus der nationalsozialistischen Vergangenheit haben die Väter des Grundgesetzes im ersten Artikel unserer Verfassung festgeschrieben. Die Würde des Menschen zu schützen und zu achten ist ein Auftrag an alle Deutschen. Dazu gehört, jeder Zeit und an jedem Ort für die Menschenrechte einzutreten. Daran will sich die deutsche Politik messen lassen.
Allerdings meinte er leider nicht die Würde der Palästinenser - und heute sehe ich nicht gut, wo in der Welt die deutsche Politik dieser Aufforderung völlig nachgeht. Aber der Bezug zur Vergangenheit entspricht weiterhin der Grundeinstellung. Wohl die schönste Rede, die Bundeskanzler Kohl je gehalten hat, ist 1985 in dem absurden Wirrwarr um den Soldatenfriedhof Bitburg beinahe unbeachtet geblieben. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen sagte er:
Versöhnung mit den Hinterbliebenen und den Nachkommen ist nur möglich, wenn wir unsere Geschichte annehmen, so wie sie wirklich war, wenn wir uns Deutsche bekennen zu unserer Scham, zu unserer Verantwortung vor der Geschichte.
Ich könnte noch einen anderen Text zitieren, der in den Geschichtsbüchern stehen sollte. Es ist die gemeinsame Resolution aller Parteien der ersten und letzten freiheitlich gewählten Volkskammer der DDR am 12. April 1990. Wichtiger noch erscheint mir ein Ereignis, das im Ausland besonders gerühmt wurde: der Kniefall von Willy Brandt vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau. (Sie wissen, dass heute ein kleines Denkmal gegenüber des großen diese Geste verewigt). Willy Brandt hatte bereits 1933 als junger linker Sozialist aus Deutschland fliehen müssen und hat dann bis Kriegsende im Widerstand zu Hitler gestanden. Persönliche Schuld hatte er also wirklich nicht! Als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland nahm er die Last der Vergangenheit auf seine Schultern.
Ja, es hat einen deutschen Widerstand gegeben. Das Beispiel von Hans und Sophie Scholl wird stets hervorgehoben - zu Recht. Weniger berechtigt ist der Ruhm des 20. Juli. Die Motive der Verschwörer waren sehr unterschiedlich und einigen hatte erst die Niederlage die Augen geöffnet. Nein, ich denke hier an den deutschen Politiker, den ich am meisten verehrt habe, nämlich Fritz Erler. Und auch an Kurt Schumacher, der bereits im Frühling 1933 ins KZ kam, weil er als junger Reichstagsabgeordnete gesagt hatte:
Der Nationalsozialismus ist der Appell an den inneren Schweinehund im Menschen
Wie groß der linke Widerstand gewesen ist, das hat Günter Weisenborn bereits 1953 in seinem Buch Der lautlose Aufstand gezeigt. Dabei muss berücksichtigt werden, was Walter Scheel zum Historikertag 1976 gesagt hat:
Hat man noch nicht begriffen, dass man die DDR nicht verstehen kann, wenn man vom Widerstand der Kommunisten gegen Hitler keine Ahnung hat?
Aber am 8. Januar 1988, in seiner Tischrede im Elysée-Palast, hat François Mitterrand Erich Honecker gesagt, wir hätten alle damals für die Freiheit gekämpft, während nach dem Krieg die Freiheit nur im Westen geherrscht habe.
Der deutsche Widerstand war ein Wesenselement der deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen. Es war kein Zufall, dass der erste deutsche Redner, den wir zu einem Vortrag in der Sorbonne einluden, Eugen Kogon war, ehemaliger Buchenwald-Häftling und Autor des Buches Der SS-Staat.
Wen bezeichnet nun dieses WIR? Hier darf ich wohl meine persönliche Geschichte erzählen. Im August 1944 war ich mit falschen Papieren in Marseille. Eine Nacht hörte ich BBC und erfuhr, dass die Insassen von Theresienstadt nach Auschwitz abtransportiert waren. Darunter die Schwester meines Vaters und ihr Gatte, ein Berliner Mediziner, der nicht hatte auswandern wollen. Am nächsten Morgen war ich sicher, endgültig sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt, so zahlreich auch die Mörder und so schrecklich auch die Verbrechen. Kurz danach besuchte ich einen sterbenden Freund, der währen der Kämpfe zur Befreiung von Marseille schwer verletzt worden war. Im Nebenbett lag ein junger deutscher Gefangener. Ich unterhielt mich lange mit ihm – auf deutsch. Wir waren gleichaltrig, d.h. neunzehn. Ich stellte fest, dass er von dem Horror wirklich nichts wusste. Da entstand bei mir das Gefühl der Mitverantwortung für seine Zukunft. Als ich 1947 als junger agrégé de l’Université und Journalist, in Mitten einer sechswöchigen Reise durch die drei Westzonen, zum ersten Mal wieder nach Frankfurt kam, wurde ich vom Oberbürgermeister Walter Kolb empfangen. Er kam aus Buchenwald. Ich hatte mich doch nicht mit ihm zu „versöhnen“! Wir hatten die gemeinsame transnationale Mitverantwortung für die freiheitlich-demokratische Zukunft der deutschen Jugend. In diesem Sinn habe ich auch dann im Oktober die Artikel-Reihe Jeunesse d’Allemagne in der Widerstandszeitung Combat veröffentlicht. Einer der Vorstandsmitglieder unseres damals gegründete Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelles (échanges: Austausch, nicht überhebliche „reeducation“) war der schon betagte Journalist Rémy Roure, vor dem Krieg war er bei Le Temps, nach dem Krieg verantwortlich für die Innenpolitik bei Le Monde. Er konnte kein deutsch. Im Ersten Weltkrieg war er Kriegsgefangener gewesen. Im Zweiten wegen Résistance in Buchenwald inhaftiert, währen seine Frau im KZ Ravensbrück umkam. Warum hat er sofort eingewilligt, mit anderen Widerstandsleuten aller Richtungen mitzumachen? Weil er sich mitverantwortlich dafür fühlte, dass Frankreich nicht dieselbe Haltung einnehme wie 1919 und danach.
Warum gebrauche ich das Wort Versöhnung nur selten und mit Zurückhaltung? Der Erste Weltkrieg ist weitgehend ein nationaler und auch ein deutsch-französischer gewesen. Ich fand die Begegnung de Gaulle/Adenauer in der Kathedrale von Reims beeindruckend. Das Hand in Hand Kohl/Mitterrand am Ossarium von Douaumont hatte einen besonderen emotionalen Wert. Und ich erfreute ich an dem Zusammensein Merkel/Sarkozy am Arc de Triomphe an einem 11. November. Aber alle drei Ereignisse bezogen sich auf den Ersten Weltkrieg. In Erinnerung an den Zweiten hätte man sich im ehemaligen KZ Dachau treffen sollen (Buchenwald lag in der DDR), wo französische und deutsche Verfolgte des Nazi-Regimes zusammen gelitten haben.
So hätte man auch besser zeigen können, dass die Westzonen, später die Bundesrepublik ein völlig anderes Deutschland war als 1914, als vor 1945. Und weil manche Franzosen sofort eingesehen haben, dass es DIE DEUTSCHEN nicht gab, konnten zunächst deutsch-französische Verbindungen auf Gesellschaftsebene hergestellt werden. Dann kam am 9. Mai 1950 der revolutionäre Vorschlag von Robert Schuman zur Montanunion, bis dann im Januar 1963 der zur deutsch-französischen Freundschaft bekehrte General de Gaulle den Elysée-Vertrag unterzeichnete.
Was all dies dann für Deutschland bedeutet hat, das hat Willy Brandt in seiner Rede als Alterspräsident des vereinigten Bundestags am 20. Dezember 1990 gesagt:
...Wir wissen auch, unsere Freiheit hätten wir nicht bewahren können, wäre sie nicht durch die Atlantische Allianz und im wachsenden Masse durch die Prosperität und die Solidarität der Europäischen Gemeinschaft geschützt worden. Zu den Gründervätern des vereinten Deutschlands zählen in diesem Sinn die Urheber des Marshall-Plans und Männer wie Jean Monnet…
Dies konnte aber nur geschehen, weil es nicht mehr DIE DEUTSCHEN gab, so wie es noch 1918 in den Augen der Siegermächte der Fall war. DIE DEUTSCHEN gibt es auch heute nicht, sei es nur, weil die bundesdeutsche Gesellschaft gewiss nicht ungespaltet ist! Nun sehe ich aber im vorigen Monat eine französische demoskopische Umfrage. Frage: Wer ist der vertrauenswürdigste Verbündete Frankreichs? 82 % antworten: Deutschland. Darauf wage ich, etwas stolz zu sein. Und Ihrerseits, als Vertreter des ganzen deutschen Volkes, dürfen stolz auf ein Vaterland sein, das sich nun, im Gegensatz zu 1914, auf die Werte Einigkeit und Recht und Freiheit beruft!