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Auch 25 Jahre nach dem Beginn der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR gibt es aus Sicht der Bundesregierung keinen Anlass, einen Schlussstrich unter die deutsche Einheit zu ziehen. Einen Schlussstrich unter eine Vergangenheit, die für viele noch immer noch sehr lebendig sei, brauche man nicht, "auch wenn manch einer sie am liebsten vergessen oder vergessen machen möchte. Wir brauchen auch keinen Schlussstrich unter die deutsche Einheit als solche, weil sie eben noch nicht vollendet ist", sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, Iris Gleicke (SPD), am Freitag, 21. Februar 2014, in der Debatte zum Stand der deutschen Einheit.
"Wir haben wirklich viel erreicht", stellte Gleicke fest. Lebensverhältnisse und materieller Wohlstand in den ostdeutschen Bundesländern hätten sich kontinuierlich verbessert. Aber der Abstand zum Westen bei der Wirtschaftskraft liege immer noch bei 30 Prozent, und die Einkommensunterschiede seien erheblich.
"Wenn wir daran etwas ändern wollen, müssen wir die ostdeutsche Wirtschaftskraft stärken und dafür sorgen, dass sich bei den Löhnen etwas tut", forderte Gleicke, die in diesem Zusammenhang die Bedeutung des von der Koalition geplanten Mindestlohns hervorhob, mit dem erstmals bundesweit ein Verdienst festgeschrieben werde: "Damit zeigen wir, dass wir es ernst meinen mit der Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland."
Gleicke verlangte auch die Schaffung einer verlässlichen und gerechten Anschlussregelung im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Das müsse ganz oben auf der Agenda stehen. Alle strukturschwachen Regionen in Deutschland müssten sich auf "ein verlässliches und aufgabengerechtes Finanzierungssystem stützen können. "Deshalb ist ein festes Bündnis Ostdeutschlands mit den strukturschwachen Regionen im Westen eines meiner erklärten politischen Ziele", sagte Gleicke. "Entweder tun wir uns zusammen und sind gemeinsam stark, oder wir gehen getrennt voneinander unter."
Nach Ansicht von Andrea Wicklein (SPD) zeigt der Aufbau in den neuen Bundesländern "eine große Gemeinschaftsleistung". Auch wenn man stolz auf das in den letzten 25 Jahren Erreichte sein könne, gebe es bei der wirtschaftlichen Entwicklung noch große Unterschiede und Ungerechtigkeiten, etwa bei der Lohnhöhe.
Dr. Dietmar Bartsch (Die Linke) sparte nicht mit Kritik. Seine Fraktion freue sich natürlich über alle Fortschritte bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Verbesserungen der Infrastruktur, aber zur Realität zähle auch, dass viele Läden in restaurierten Innenstädten leer stehen würden. Die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse sei nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern sei doppelt so hoch wie in den alten Ländern, die Zahl sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze sei von 1992 bis heute um 1,2 Millionen (17,5 Prozent) zurückgegangen.
In den alten Ländern sei die Zahl um fünf Prozent gestiegen. Auch bei den Löhnen habe sich der Unterschied zwischen Ost und West nicht wesentlich verändert: "Das alles sind doch Riesenprobleme." Wenn sich der Aufholprozess in diesem Tempo fortsetze, dann habe man 2085 in gleichwertige Wirtschaft, fast 100 Jahre nach der deutschen Einheit. Scharf kritisierte Bartsch die geplante Mütterrente: Ost-Mütter würden für jedes vor 1992 geborenes Kind 25,72 Euro mehr Rente bekommen, West-Mütter 28,40 Euro. "Jedes Kind muss auf dem Rentenkonto gleich viel wert sein", forderte Bartsch, der auch feststellte: "Der Aufbau Ost als Nachbau West ist letztlich gescheitert."
Der thüringische Abgeordnete Mark Hauptmann (CDU/CSU) erklärte, "dass meine ostdeutschen Kollegen und ich heute hier an diesem Pult frei sprechen dürfen, ist schon ein Ergebnis der deutschen Einheit, für die viele Menschen hart und lange und mutig gekämpft haben". Es gebe aber inzwischen einen "Trend zur Verharmlosung der DDR-Diktatur". Es entstehe der Eindruck, die DDR sei ein normaler Staat gewesen: "Das ist mitnichten der Fall", sagte Hauptmann, der in diesem Zusammenhang an das letzte Opfer des Schießbefehls, Chris Gueffroy, erinnerte, der vor 25 Jahren in Berlin bei einem Fluchtversuch erschossen wurde.
Zur wirtschaftlichen Lage stellte Hauptmann fest, man könne heute ein "Aufblühen Ostdeutschlands" sehen. Die Arbeitslosenquote in Thüringen sei die niedrigste seit der Wiedervereinigung. Das Erreichen von Vollbeschäftigung könne bald Wirklichkeit werden. Thüringen tilge seine Schulden und sei damit Vorbild für andere Länder. Besorgt äußerte sich Hauptmann über die hohen Energiekosten und den demografischen Trend. Schon heute gebe es einen massiven Fachkräftemangel, der in ländlichen Regionen noch stärker werde.
Den von Bundesregierung als Unterrichtung (18/107) vorgelegten Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013 nahm Stephan Kühn (Bündnis 90/Die Grünen) kritisch unter die Lupe. Der Bericht beschreibe nur den Status quo, liefere keine neuen Erkenntnisse und setze keine neuen Impulse. Auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution sei es nicht gelungen, einen selbsttragenden, wirtschaftlich dynamischen Entwicklungspfad zu etablieren. "Die wirtschaftliche Angleichung stagniert seit Mitte der neunziger Jahre", kritisierte Kühn. Wer von blühenden Landschaften rede, betreibe Schönfärberei.
Zur öffentlichen Debatte um die Zukunft der Stasi-Unterlagen erklärte Kühn: "Auch 25 Jahren nach der friedlichen Revolution ist die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Vergangenheit der SED-Diktatur in allen ihren Facetten weder überflüssig noch rückwärtsgewandt."
In dem vom Bundestag zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesenen Bericht heißt es, fast eine Generation nach der Wiedervereinigung hätten sich "die ökonomischen Lebensverhältnisse in den ost- und westdeutschen Bundesländern, insbesondere der materielle Wohlstand, deutlich verbessert".
Der Osten habe heute eine moderne Infrastruktur mit gut ausgebauten Verkehrswegen und hoch leistungsfähigen Energienetzen sowie eine "hervorragende öffentliche Wissenschaftsinfrastruktur, die aus einem dichten Netz von Hochschulen und Forschungseinrichtungen besteht". Der Angleichungsprozess an das Wirtschaftsniveau in Westdeutschland habe sich in den vergangenen Jahren allerdings deutlich verlangsamt.
Zwischen Ost- und Westdeutschland bestehen dem Bericht zufolge noch spürbare Unterschiede in der Wirtschaftskraft je Einwohner, den Löhnen und Gehältern fort. Gleiches gelte für das Steueraufkommen je Einwohner. Wie aus der Vorlage weiter hervorgeht, haben die "deutlich verbesserte Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt und die insgesamt gute wirtschaftliche Situation dazu beigetragen, dass die Abwanderung aus Ostdeutschland in den letzten Jahren zurückgegangen und weitgehend gestoppt ist".
Der Saldo der Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland sei 2012 erstmals seit der Wiedervereinigung nahezu ausgeglichen gewesen. Der Wanderungsverlust habe sich auf "nur noch gut 2.000 Personen" belaufen. In den Jahren 2000 bis 2005 habe er noch bei durchschnittlich 66.000 Personen pro Jahr gelegen. Insgesamt seien seit 1990 knapp 1,8 Millionen Menschen in die westdeutschen Bundesländer gezogen.
Ein Entschließungsantrag der Linksfraktion (18/583), in dem gleichwertige Lebensverhältnisse als "Utopie" bezeichnet werden und eine "gesamtstaatliche politische Zukunftsvision zur deutschen Einheit" vermisst wird, wurde zur weiteren Beratung an den Wirtschaftsausschuss überwiesen. Die Fraktion hatte besonders eine Angleichung der Renten gefordert. (hle/21.02.2014)