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"Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Juchacz." Kurz, sachlich und ohne Hinweis auf die Bedeutung des Augenblicks kündigte der Präsident der Weimarer Nationalversammlung, Constantin Fehrenbach (Zentrumspartei), am Mittwoch, 19. Februar 1919, einen neuen Redebeitrag an. Und doch war es ein besonderer Moment in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. An diesem elften Sitzungstag des neugewählten Parlaments hielt mit der SPD-Politikerin Marie Juchacz (1879-1956) zum ersten Mal in Deutschland eine Frau eine Rede vor einem demokratisch gewählten Parlament. Mit der ungewöhnlichen Anrede "Meine Herren und Damen!" löste sie laut Protokoll "Heiterkeit" im Hohen Haus aus.
"Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf", betonte die Sozialpolitikerin zu Beginn ihrer rund vierminütigen Ansprache. Weiter sagte Marie Juchacz selbstbewusst: "Ich möchte hier feststellen, und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Juchacz meinte damit das Wahlrecht.
Die SPD-Abgeordnete aus Potsdam erhielt bei der Premiere viel Zustimmung und Beifall aus den eigenen Reihen. Doch der Präsident musste auch mit der Glocke eingreifen. "Die Unterhaltung wird hinter dem Präsidialtische mit einer derartigen Lebhaftigkeit geführt, daß es dem Präsidium nicht möglich ist, die Rednerin zu verstehen … Ich kann das nicht weiter dulden. Ich bitte, hier Ruhe zu halten!", tadelte Fehrenbach.
Juchacz ging in ihrer Rede unter anderem auf die kommenden Aufgaben der Politiker und Politikerinnen und auf die Situation im Lande nach dem verlorenen Weltkrieg sowie auf Kritik an der neuen Regierung ein. "Ich will nur feststellen, daß sich auch unter dem alten Regime Raub, Mord, Diebstahl und Verbrechen aller Art in so erschreckender Weise gehäuft haben… Ich werte alle diese Erscheinungen rein menschlich; sie sind geboren aus der Not und dem Elend des Volkes. Der Krieg ist kein Jungbrunnen der Moral!"
Bis 1918 spielten die Frauen im deutschen Politikbetrieb keine Rolle. Erst mit der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vom 30. November 1918 wurde das aktive und passive Wahlrecht für "alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen" eingeführt. Somit konnten Frauen in Deutschland bei der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erstmals auf nationaler Ebene ihr neues Recht nutzen.
Sie strömten enthusiastisch an die Urnen. Über 82 Prozent der wahlberechtigten Frauen gaben ihre Stimme ab, 37 weibliche Abgeordnete, darunter Marie Juchacz und ihre jüngere Schwester Elisabeth Röhl, zogen ins Parlament ein. Einen Monat später trat die Sozialdemokratin erstmals an das Rednerpult.
Die Tochter eines Zimmermanns verbrachte ihre Jugend in Landsberg an der Warthe in der preußischen Provinz Posen. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete sie als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin sowie als Wärterin in der Provinz-Landes-Irrenanstalt. Mit erspartem Geld leistete sich Marie Juchacz einen Schneiderei- und Weißnähkurs. Danach nahm sie eine Stelle in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz an, ihres späteren Ehemanns.
Die Ehe scheiterte und wurde geschieden – ein damals ungewöhnlicher Vorgang. Marie Juchacz zog 1905 mit ihren zwei kleinen Kindern nach Berlin. Nach der Aufhebung des Verbots politischer Betätigung für Frauen trat die alleinerziehende Mutter in die SPD ein. Später wurde sie Mitglied des Parteivorstands und Leiterin des Frauensekretariats. Außerdem übernahm die Politikerin die Redaktion der Zeitschrift "Die Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen".
Von 1913 bis 1917 war sie Frauensekretärin der SPD in Köln und Mitglied des Vorstands der Bezirkskommission für den Bezirk Obere Rheinprovinz. Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten Marie Juchacz und ihre Schwester Elisabeth Röhl in der Heimarbeitszentrale und bei der so genannten Lebensmittelkommission. Gemeinsam mit anderen Frauen sorgten sie für die Einrichtung von Suppenküchen, Nähstuben und Heimarbeitsplätzen.
Zudem engagierten sie sich in der Unterstützung von Kriegswitwen und -waisen. Die Not der Betroffenen ließ die beiden Sozialdemokraten nicht mehr los. Auch als Abgeordnete widmete sich Marie Juchacz hauptsächlich der Sozialpolitik. Sie trat unter anderem für einen besseren Mütter- und Wöchnerinnenschutz, für Jugendhilfe und eine Änderung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder ein.
Ihre größte sozialpolitische Leistung war jedoch die Gründung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Dezember 1919. Nach dem Ersten Weltkrieg waren Millionen Deutsche dringend auf Hilfe angewiesen. Tausende Kriegsversehrte, Witwen, Waisenkinder und Arbeitslose standen ohne soziale Hilfen da. So rief Marie Juchacz den "Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt" (AWO) ins Leben. Dieser setzte mit seinen Angeboten nicht auf Almosen, sondern auf helfende Solidarität.
Es entwickelte sich rasch eine tragfähige Organisation mit Schulungseinrichtungen für Sozialarbeiter, Kindergärten und Erholungsheimen. Im Jahr 1933 hatte die AWO rund 135.000 ehrenamtliche Mitglieder, die in 2.600 Ortsausschüssen mit 1.414 Beratungsstellen tätig waren.
Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler löste sich die AWO auf, um der Vereinnahmung durch die NSDAP zu entgehen. Die mittlerweile 54-jährige Marie Juchacz emigrierte zunächst ins Saarland und nach der Übernahme des Saargebiets weiter nach Frankreich. 1941 floh die Politikerin über Martinique nach New York. Dort gründete sie die "Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus", die nach Kriegsende mit Paketen Menschen im zerstörten Deutschland half.
Im Jahr 1949 kehrte Marie Juchacz nach Deutschland zurück, wo sie am 28.Januar 1956 im Alter von 76 Jahren starb. (ah/13.02.2014)