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Christo (Mitte) auf der Tribüne im Bonner Plenarsaal während der Debatte zur Reichstagsverhüllung am 25. Februar 1994 © DBT/Presse-Service Steponaitis
Darf das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude das Reichstagsgebäude einpacken? Ja, meint die Mehrheit der Abgeordneten und gibt am 25. Februar 1994 grünes Licht für eine spektakuläre Kunstaktion. Fast 23 Jahre hat der Objektkünstler Christo die Idee "Wrapped Reichstag, project for Berlin" verfolgt und für sein Reichstagsprojekt geworben, bis es endlich soweit war. Die Debatte zum Tagesordnungspunkt "Verhüllter Reichstag – Projekt für Berlin" beginnt um 9 Uhr. Eine Stunde haben sich die Parlamentarier Zeit gegeben, um öffentlich ihre Argumente für und gegen die temporäre Reichstagsverhüllung vorzutragen. Im Anschluss soll namentlich abgestimmt werden – frei und ohne Fraktionszwang.
Christos Vorhaben polarisiert quer durch die Fraktionen. Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) gehört zu den entschiedenen Gegnern der Aktion, Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth – ebenfalls CDU – zu den frühen Befürwortern. Die Gegner, unter ihnen der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Dr. Wolfgang Schäuble, vertreten die Auffassung, das Verhüllungsprojekt sei der historischen Würde des Ortes nicht angemessen.
Er habe Respekt vor dem Werk des Künstlers, aber mit dem wohl symbolträchtigsten und bedeutungsvollsten politischen Bauwerk in Deutschland sollte man sorgsam umgehen und keine Experimente veranstalten. Einen solchen Umgang mit einem "steinernen Zeugnis deutschen Schicksals" würden zu viele Deutsche nicht verstehen und nicht akzeptieren können, betont Schäuble.
Der fraktionslose Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs hingegen bezweifelt, dass viele Menschen in diesem Lande tiefere Gefühle mit diesem steinernen Symbol verbinden. Der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung sei der Reichstag fremd und gleichgültig, stellt er nüchtern fest. Der FDP-Abgeordnete Manfred Richter bemerkt ironisch, dass der Reichstag für den Umbau ebenfalls mit einem Baugerüst umstellt und mit Planen verhängt werden müsse. Kritik an der Verwandlung einer historischen Stätte in eine Großbaustelle hätte er aber nicht vernommen.
Konrad Weiß von der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen sieht in der Verhüllung die "Möglichkeit, diesen ambivalenten Ort deutscher Geschichte neu zu erfahren". Die Enthüllung schließlich sei das Symbol für die Wiedergeburt der Demokratie, für den "Aufbruch unseres Landes", das mit der Wiedervereinigung ein neues Land werden sollte.
Für einen ebenso gelassenen wie selbstbewussten Umgang mit der Geschichte plädiert der SPD-Abgeordnete Freimut Duve. Ein Moment der Entspanntheit, des heiteren Umgangs mit etwas, würde "uns Deutschen" sehr guttun. Und es wäre auch gut, wenn endlich einmal andere Bilder aus Deutschland in den internationalen Medien auftauchten als die aus Rostock und Mölln, sagte Duve. Nach einer kontroversen, teils emotional geführten und von vielen Zwischenrufen begleiteten Debatte können sich die Befürworter des Projekts durchsetzen. 295 Abgeordnete stimmen für, 226 gegen das Vorhaben, zehn Abgeordnete enthalten sich der Stimme.
Ein Jahr später bedecken 100.000 Quadratmeter silbrig glänzendes Polypropylengewebe den künftigen Parlamentssitz. Die Kosten von 15 Millionen Dollar tragen Christo und Jeanne-Claude allein. Der "Wrapped Reichstag" zieht Millionen Besucher an. Die friedliche, entspannte Atmosphäre dieser Aktion im Juni 1995 sorgt auch international für Beachtung. Im Anschluss an die zweiwöchige Aktion beginnt der Architekt Sir Norman Foster mit den Umbauarbeiten am Reichstagsgebäude. Vier Jahre später bezieht der Deutsche Bundestag seinen neuen Parlamentssitz.
Für seine Arbeit erhält das New Yorker Künstlerpaar 1996 das Bundesverdienstkreuz. Jeanne Claude stirbt 2009. Am 12. April 2014 wird Christo mit dem Theodor-Heuss-Preis geehrt. Der von der Theodor-Heuss-Stiftung ausgeschriebene Preis richtet sich an Persönlichkeiten, die sich für die Gestaltung der Demokratie einsetzen. Die Laudatio hält die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth.
In der Begründung heißt es: "Mit der Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes, eines zunächst ambivalenten Symbols deutscher Demokratie, offenbarten er und Jeanne-Claude die gesellschaftspolitische Wirkkraft ihrer Arbeit. Der Umsetzung ging ein jahrzehntelanges Genehmigungsverfahren voraus. Nur durch die Beharrlichkeit von Christo und Jeanne-Claude und das Zusammenspiel von Politikern, Anwälten, Ingenieuren, Bankern, Intellektuellen und engagierten Bürgern konnte das Kunstprojekt nach dem Fall der Berliner Mauer zum Erfolg geführt werden. Der verhüllte Reichstag zog so viele Bürger in seinen Bann, dass er sich von seiner Ambivalenz als demokratisches Symbol befreien konnte. So gilt der Reichstag seitdem als Sinnbild für Aufbruch und Neuanfang." (klz/20.02.2014)