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Bundesarbeitsminister Norber Blüm (CDU) und SPD-Sozialexperte Rudolf Dressler verkünden den Pflegekompromiss © dpa - Bildarchiv
Vor 20 Jahren: Am Freitag, 22. April 1995, verabschiedet der Bundestag ein Gesetz, mit dem eine Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt wird. Sie bildet nach Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung eine weitere Säule des Sozialstaates. "Das ist ein guter Tag für den Deutschen Bundestag. Das Pflegeversicherungsgesetz wird beschlossen. Es ist vor allen Dingen ein guter Tag für diejenigen, die auf das Gesetz warten; es ist die beste Nachricht seit 20 Jahren." Für den Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm (CDU)ist es ein Tag zur Freude. Am Tag zuvor hatte der Vermittlungsausschuss nach einer letzten Sitzung den Weg dafür frei gemacht.
Nach jahrelanger Diskussion innerhalb der schwarz-gelben Koalition und mit dem Bundesrat freut er sich über den gefundenen Kompromiss zum Pflegeversicherungsgesetz: "Denn eine verwirklichte Pflegeversicherung ist tausendmal besser als ein nicht realisiertes Ideal."
Von Anfang an war man sich darüber einig, dass man eine solche Pflegeversicherung braucht. Die Menschen werden immer älter und das Risiko, pflegebedürftig zu werden, steigt. Immer mehr Menschen mit Pflegbedürftigkeit mussten Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Gegen dieses allgemeine Lebensrisiko sollten die Versicherten abgesichert werden. Gestritten wurde vor allem um die Finanzierung.
Blüms Vorschlag sah eine zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer umlagefinanzierte Pflichtversicherung wie auch schon in anderen Zweigen der Sozialversicherung vor. So schnell wie möglich sollten Leistungen aus der Pflegeversicherung an die Pflegebedürftigen ausbezahlt werden können.
Der Koalitionspartner FDP bevorzugte hingegen eine privatwirtschaftliche kapitalgedeckte Pflegeversicherung, die erst in der Zukunft Leistungen an die Beitragszahler auszahlen könnte. Die Liberalen und Teile der Union fürchteten zudem, steigende Lohnnebenkosten könnten Arbeitsplätze und den Standort Deutschland gefährden. Die SPD, deren Mehrheit im Bundesrat gebraucht wurde, forderte die solidarische Einbeziehung aller Bürger als Beitragszahler.
Die Befürworter einer paritätischen umlagefinanzierten Pflegeversicherung setzen sich durch. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen zunächst je zur Hälfte ein Prozent des Bruttolohns in die Pflegeversicherung ein. Als Kompensation für die Kosten der Arbeitgeber sollen die Länder einen bezahlten Feiertag streichen.
Ein Kompromiss, dem die meisten Liberalen trotz zwiespältiger Gefühle zustimmen können. Mit der von ihr durchgesetzten Kompensationsregelung sei ein in der Sozialgesetzgebung bisher unbekannter Grundsatz aufgestellt und ein Umdenkungsprozess eingeleitet worden, freut sich die FDP-Sozialpolitikerin Gisela Babel.
Auch der SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler sieht für seine Fraktion einen guten Start für einen neuen Sozialversicherungszweig. Auch wenn er sich über die ökonomische Kompensation nicht so recht freuen kann. "Das ist uns nicht leichtgefallen. Es gilt nunmehr die Aufforderung an die Bundesländer, ihr Versprechen, den Ausgleich bis zum Jahresende durch Abschaffung eines Feiertages zu erbringen, einzulösen. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind angemessen. Die Finanzierung ist solide. Sozialversicherungsrechtliche Systembrüche wurden verhindert. Die Tarifautonomie bleibt unangetastet."
Aus Sicht der PDS/Linke Liste und von Bündnis 90/Die Grünen bringt die neue Pflegeversicherung keine Verbesserung für die Pflegebedürftigen. Sie hatten ein bedarfsgerechtes, steuerfinanziertes Pflegegesetz vorgeschlagen. Vor allem kritisieren sie, dass mit der Kompensation Arbeitgeber aus der sozialen Verantwortung entlassen werden.
Die Pflegeversicherung wird zum 1. Januar 1995 mit dem Elften Sozialgesetzbuch (SGB XI) als Pflichtversicherung eingeführt. Bei ihrer Einführung nehmen etwa eine Million Menschen die Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch.
Bis zum Jahresende beschließen die meisten Länder die Abschaffung des Buß- und Bettages, in Sachsen ist es der Pfingstmontag. Die neue Versicherung erstattet in einem festgelegten Rahmen die Pflegekosten zu Hause und in den Heimen.
Vorausgegangen war ein regelrechter Gesetzgebungsmarathon. Die erste Lesung des Gesetzentwurfs von CDU/CSU und FDP zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (12/5262) fand am 1. Juli 1993 statt. Später brachte auch die Bundesregierung ihren wortgleichen Gesetzentwurf (12/5617) ins Parlament ein. Zu diesem Gesetzentwurf gab der Bundesrat am 27. September 1993 seine Stellungnahme mit zahlreichen Änderungswünschen (12/5761) ab, auf die wiederum die Bundesregierung mit ihrer Gegenäußerung (12/5891) reagiert.
Am Mittwoch, 20. Oktober 1993, fand die abschließende Beratung der Vorlagen im federführenden Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung statt, der dem Plenum dazu eine Beschlussempfehlung (12/5920) und einen Bericht (12/5952) vorlegte. In der namentlichen Abstimmung am Freitag, 22. Oktober 1993, stimmten 322 von 556 Abgeordneten für das Gesetz, 227 dagegen. Es gab sieben Enthaltungen.
Daraufhin rief der Bundesrat am 5. November 1993 den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat an, der dazu am 9. Dezember 1993 eine Beschlussempfehlung (12/6424) vorlegte, über die der Bundestag am 10. Dezember namentlich abstimmte. Dem Vermittlungsergebnis stimmten 292 Abgeordnete zu, 217 lehnten es ab. Erneut gab es sieben Enthaltungen.
Doch der Bundesrat lehnte das Vermittlungsergebnis in seiner Sitzung am 17. Dezember 1993 ab (12/6472). Als die Bundesregierung am 21. Dezember 1993 den Vermittlungsausschuss anrief (12/6491), war klar, dass es ein zweites Vermittlungsverfahren geben würde. Während dieses Vermittlungsverfahrens beschloss der Bundestag in einer vereinbarten Debatte am 11. März 1994 mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP einen Entschließungsantrag zum Thema Pflegeversicherung (12/7053).
Der Vermittlungsausschuss einigte sich schließlich am 21. April 1994 und legte dem Bundestag erneut eine Beschlussempfehlung vor (12/7323) vor. Sie fand am 22. April 1994 im Plenum des Bundestages bei Gegenstimmen aus der FDP, der PDS/Linke Liste und von Bündnis 90/Die Grünen sowie bei drei Enthaltungen eine Mehrheit.
Eine Woche später, am 29. April 1994, stimmte auch der Bundesrat dem Vermittlungsvorschlag zu – einstimmig. (klz/20.04.2014)