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Vertreter aller Fraktionen haben am Freitag, 9. Mai 2014, im Bundestag die EU-Osterweiterung als Erfolgsgeschichte gewürdigt. In einer vereinbarten Debatte anlässlich des zehnten Jahrestages der Aufnahme von zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten in die Europäische Union zollten die Redner den neuen Mitgliedern Respekt für ihre Transformationsleistungen in den vergangenen Jahren und würdigten die Erweiterung als Überwindung der Spaltung Europas.
Mit der Osterweiterung am 1. Mai 2004 habe Europa eine "historische Chance" ergriffen, sagte Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): "Das Verbindende behielt die Oberhand über das Trennende." Die EU sei vor zehn Jahren nicht einfach nur größer geworden, sondern habe auch an politischem Gewicht, an Erfahrungen, Sprache und Kultur gewonnen.
Steinmeier verwies zudem auf die wirtschaftlichen Erfolge der Mittel- und osteuropäischen Staaten. In Ländern wie Ungarn, Tschechien oder Polen sei die Kaufkraft steig gestiegen. Lettland sei mit vier Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr Spitzenreiter in Europa und habe am 1. Januar 2014 den Euro eingeführt.
Nicht zuletzt seien in Deutschland Hunderttausende von neuen Jobs durch die Osterweiterung entstanden. Jedoch gebe es auch Rückschritte und weiteren Reformbedarf in den neuen Mitgliedsländern. Darüber dürfe Europa nicht hinwegsehen, mahnte Steinmeier.
Der Außenminister machte auch klar, dass der Jahrestag in "verdammt schwierige Zeiten" falle. Die Lage in der Ukraine konfrontiere Europa derzeit mit der "schwersten Krise seit Ende des Kalten Krieges".
Die gesellschaftlichen Umbaumaßnahmen und die politischen Veränderungen, die in den neuen Mitgliedstaaten vollzogen worden seien, bezeichnete Steinmeier besonders vor diesem Hintergrund als einen "unverzichtbaren Erfahrungsschatz". Diesen könne Europa sehr dringend gebrauchen, wenn es jetzt darum gehe, Wahlen in der Ukraine zu ermöglichen und das Land auf einen stabilen Weg zurückzuführen .
Der europapolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Manuel Sarrazin, fasste die Erfolge der Erweiterung in einem prägnanten Satz zusammen: "Nichts wäre besser ohne die Osterweiterung, alles wäre schlechter ohne sie." Die Erweiterungsrunde sei einer der "größten Schritte in diesem Jahrhundert".
Die gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Transformation, die die zehn Länder seit 2004 vollzogen hätten, sei "bemerkenswert", aber auch die deutsche Widerstandskraft in der Euro-Krise sei nicht zu verstehen ohne die Osterweiterung. Dennoch gebe es noch viel zu tun, ergänzte Sarrazin: Die Transformation müsse weiter vorangetrieben werden, Rückschritte bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufgehalten werden.
Sarrazin fügte seiner Rede ein klares Plädoyer hinzu: "Die Ukraine gehört genauso zum Wertekanon Europas." Das Land brauche daher eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union. "Wir müssen uns einer Sache bewusst sein", begründete der Grünen-Abgeordnete seine Forderung: "Diese unglaubliche Transformationskraft, die Europa ausstrahlt, konnte nur freigesetzt werden, weil 1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand, eine Perspektive für einen Beitritt der zehn mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union auszusprechen".
Wenn man daher heute über die Ukraine rede und über die "gewaltigen Transformationsherausforderungen", die dort anstünden, dann gehe dies nur mit einem "ähnlichen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen". "Europa ist noch nicht fertig", betonte Sarrazin. Die EU solle weiterhin den Mut haben, über kommende Erweiterungen zu reden.
Andrej Hunko (Die Linke) veranlasste Sarrazins Forderung zu einer Frage: "Was ist das strategische Ziel der Osterweiterung? Sollen alle europäischen Stasten – die Ukraine, Moldawien, Georgien – Mitglieder werden? Und irgendwann auch Russland?" Ihm sei nicht klar, wohin die EU eigentlich wolle und wie sie künftig ihr Verhältnis zu Russland definieren wolle.
Hunko forderte eine "grundsätzliche Debatte über eine Neuausrichtung der EU-Ostpolitik". Diese solle auf Kooperation und nicht auf Konfrontation setzen, auch im Hinblick auf Russland. "Wir brauchen ein Verständnis von europäischer Integration als Teil einer internationalen Zusammenarbeit und nicht als Blockbildung gegen andere Teile der Welt", betonte der Linken-Abgeordnete.
Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) erinnerte daran, dass das Jahr des Beitritts der zehn neuen Mitglieder auch das Jahr der orangenen Revolution in der Ukraine war. "Wenn damals das Volk gegen Wahlfälschungen der Regierung Janukowitsch aufstand, so war die europäische Inspiration, die auch durch den Beitritt zustande gekommen ist, sicherlich ein wichtiger Impuls."
Und auch wenn die orangene Revolution letztlich "deprimierende Resultate" erbracht habe, so Bergner, müsse sich die EU darüber im Klaren sein, "dass die Vorbildwirkung der EU-Mitgliedschaft der Länder Osteuropas Erwartungen an uns gerichtet und verstärkt hat".
Bergner bezeichnete die Osterweiterung als "eine Art kulturelle Familienzusammenführung der europäischen Staaten". Für die mittel- und osteuropäischen Staaten und ihr jahrhundertelanges Streben nach Souveränität, habe die Aufnahme in die EU die politische Überwindung dessen bedeutet, was der tschechische Schriftsteller Milan Kundera einmal als die "mitteleuropäische Tragödie" bezeichnet hatte. (joh/09.05.2014)