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Der britische Parlamentschor und die Musikgemeinschaft des Bundestages beim gemeinsamen Auftritt in Westminster Hall, London. © pa/empics
Die Aufforderung war präzise, höflich, aber auch mit einer Stimme vorgetragen, die kein Zuwiderhandeln dulden würde. „Please rise!“, bitte aufstehen, rief der in traditionellem Ornat gekleidete Zeremonienmeister in die ehrwürdige Westminster Hall, dem ältesten Teil des britischen Parlaments im Herzen Londons. Und die 1.200 Konzertgäste kamen dieser Anordnung zu Ehren des gemessenen Schrittes einziehenden Präsidenten (Speaker) des britischen Unterhauses (House of Commons), John Bercow, der Sprecherin im britischen Oberhaus (Lord Speaker), Baroness D'Souza, und deren deutscher Gäste, Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert in Begleitung seiner Frau, gern nach. Als das Publikum dann weiterer Anweisungen harrte, geschah – nichts. Also ergriff die erste Sitzreihe von selbst die Initiative und nahm schließlich ohne weitere Aufforderung Platz. Damit löste sich die kurzfristige Unsicherheit unter fröhlichem Gemurmel.
Diese Szene zu Beginn eines gemeinsamen Konzerts des britischen Parlaments-Chores und der Musikgemeinschaft des Deutschen Bundestages war bezeichnend für den Verlauf des Mittwochabends, 9. Juli 2014. Würden die beiden Laienchöre das anspruchsvolle Programm, in dessen Mittelpunkt Felix Mendelssohn-Bartholdys (1809-1847) „Lobgesang“ mit Texten aus der Lutherbibel in deutscher Sprache stand, bewältigen?
Die Erwartungshaltung im Publikum, darunter neben vielen britischen Parlamentariern auch eine von Lammert angeführte hochrangige Delegation des Deutschen Bundestages mit dem Vorsitzenden des Ausschusses für Kultur und Medien, Siegmund Ehrmann (SPD), und dem Vorsitzenden der Deutsch-Britischen Parlamentariergruppe, Stephan Mayer (CDU/CSU), war groß. Und das Lampenfieber in beiden Teilen des „gemischten Chores“ entsprechend hoch.
Schon nach dem ersten Stück „Zadok the Priest“, das der in Halle an der Saale geborene deutsch-britische Komponist Georg Friedrich Händel (1685-1759) im Auftrag des britischen Königs Georg II. 1727 komponiert hatte, war klar: Es würde ein fulminantes Gesangserlebnis werden, eines, das mit durchaus professioneller Klasse beeindruckte und das Publikum am Ende zu begeistertem, minutenlang im Stehen dargebrachtem Applaus veranlassen sollte. Wie weggeblasen war die anfängliche Anspannung.
Anlass des Konzerts war ein historisches Doppelereignis: der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren und die Personalunion zwischen der britischen Krone und dem Königreich Hannover vor 300 Jahren. Zwei Daten, die, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, die deutsch-britischen Beziehungen einschneidend geprägt haben.
Darauf ging der deutsche Parlamentspräsident Lammert in seinem Grußwort ein. Er sagte: „Der entscheidende Unterschied beider Ereignisse ist, dass das erste auf einer friedlichen Machtverschiebung beruht, der parlamentarisches Handeln zugrunde lag.“ Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hingegen hätten die Parlamente eine sehr untergeordnete Rolle gespielt – in Deutschland ebenso wie in England.
Die aus dieser Entwicklung letztlich erwachsenen zwei Weltkriege hätten Europa gespalten. „Wir Deutschen kennen die Ursache und die Auswirkungen der Kriege und wir sind uns der besonderen Rolle Deutschlands dabei bewusst“, sagte Lammert.
Er dankte Großbritannien und den europäischen Nachbarn, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Vertrauen in ein neues, demokratisches Deutschland gefasst hätten, das vor nunmehr 25 Jahren wiedervereinigt werden konnte. Auch deshalb sei es für ihn eine Ehre, diesem Konzert beizuwohnen.
Auch die Speaker der beiden Kammern des britischen Parlaments würdigten den Besuch des deutschen Chores, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, der Fraktionen und der Abgeordneten sowie etliche Mitglieder des Bundestages und ehemalige Abgeordnete singen.
Speaker Bercow: „Ich bin sicher, dass das nicht der letzte gemeinsame Auftritt unserer Chöre ist.“ Und Lord Speaker D´Souza unterstrich diesen Ausblick, indem sie sagte: „Unsere auf Gesprächen fußende interparlamentarische Partnerschaft erreicht heute Abend mit Gesang eine neue Dimension.“
Die deutsche Delegation nutzte den Aufenthalt in London zu zahlreichen Gesprächen mit britischen Parlamentariern. Unter anderem nahmen die Abgeordneten an der „Prime Minister´s Question Time“ teil, der Befragung des Premierministers, David Cameron, im House of Commons unter Leitung von Speaker Bercow. Darin geht es im Vergleich zu der mitunter als etwas farblos geltenden Fragestunde an die Regierung im Deutschen Bundestag ausgesprochen lebhaft zu. Eine detailgenaue Vorbereitung dieses parlamentarischen Instrumentes ist deshalb umso nötiger. Auch dazu wurde den deutschen Gästen ein Einblick gewährt.
Mit dem Konzertabend endete ein Besuch in London, der die deutsch-britische Freundschaft auf beeindruckende Weise unterstrichen hat. Wenn Politik einen Bogen zur Kultur schlägt, erwächst daraus Kultur der Politik. Das ist die Botschaft aus der Westminster Hall in diesem ganz besonderen Gedenkjahr 2014. (jbi/10.07.2014)