Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Andrej Hunko hat sie alle drei im Gefängnis besucht. Den Journalisten Mustafa Balbay, der für die von Mustafa Kemal Atatürk gegründete CHP ins türkische Parlament gewählt wurde. Genauso wie Faysal Sariyıldı und Selma Irmak, beide Abgeordnete der kurdischen Partei BDP. Für alle drei hat der Aachener Abgeordnete, Obmann im Unterausschuss zu Fragen der Europäischen Union für Die Linke, eine Patenschaft im Rahmen des Programms "Parlamentarier schützen Parlamentarier" des Bundestages (PsP) übernommen. Er habe sich selbst dafür eingesetzt, dass die drei, ebenso wie mehrere weitere inhaftierte türkische Abgeordnete, in das Programm aufgenommen werden, sagt Hunko.
Auf seine drei Schützlinge sowie die anderen wurde Hunko während der Wahl zum nationalen türkischen Parlament 2011 aufmerksam. Hunko war als Wahlbeobachter für den Europarat dabei, erfuhr, dass neun gewählte Abgeordnete inhaftiert waren. Er sei in der Delegation des Bundestages für den Europarat, außerdem Berichterstatter im EU-Ausschuss für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, beschäftige sich also viel mit diesem Land, sagt Hunko.
Was ihn an diesen Fällen besonders gestört habe, sei, dass alle jahrelang in Untersuchungshaft gesessen hätten, also nicht verurteilt wurden. Außerdem seien sie nach der Wahl als Parlamentarier anerkannt worden, hätten aber durch die Haft ihr Mandat nicht ausüben können. "Das sorgt ja auch für eine Ungleichheit im Parlament."
Schließlich sei kein Kandidat für sie nachgerückt. Damit die Fälle über den Bundestag eine größere Aufmerksamkeit bekommen, habe seine Fraktion die Betroffenen für das PsP-Programm vorgeschlagen, er selbst habe drei der Patenschaften übernommen.
Wenn das Thema Beitrittsverhandlungen im EU-Ausschuss angesprochen wurde oder die Türkei im Monitoring-Ausschuss des Europarates (Ausschuss für die Einhaltung der von den Mitgliedstaaten des Europarates eingegangenen Verpflichtungen) auf der Tagesordnung stand, habe er seine drei Schützlinge genannt. Auf EU-Ebene seien auch Vertreter der türkischen Regierungspartei AKP dabei gewesen. "Das wird auch rückgemeldet, das ist ja auch unangenehm für die."
Die Gründe für die Verhaftung seien sehr unterschiedlich. Mustafa Balbay war seit 2009 in Haft, wegen einer angeblichen Beteiligung an einem Umsturzversuch durch den mutmaßlichen nationalistischen Geheimbund "Ergenekon". Das Netzwerk soll über Jahre versucht haben, die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu stürzen. Erst 2013 wurde Balbay verurteilt, zu 34 Jahren und acht Monaten Haft.
Faysal Sariyıldı und Selma Irmak wurden im Zuge von Ermittlungen gegen mutmaßliche Koma-Civakên-Kurdistan-Mitglieder festgenommen. Die KCK ist aus der unter Abdullah Öcalan bekannt gewordenen militanten Untergrundorganisation Partiya Karkerên Kurdistan (PKK) hervorgegangen.
"Die Gefängnis-Besuche waren sehr beeindruckend, weil sie sehr unterschiedlich waren", sagt Hunko. Balbay sei jahrelang in einer Einzelzelle gehalten worden, habe sich bitterlich über die Einsamkeit beklagt. Er habe kein normales Verhältnis mehr zu Geräuschen gehabt. "Ein Kaffeelöffel, der in einer Tasse umgerührt wird, hörte sich für ihn an, als ob ein Zug durch den Raum fährt."
Balbay habe die Zeit genutzt, um Bücher zu schreiben. Da er nur von Hand schreiben durfte, habe er sich sogar beigebracht, mit beiden Händen schreiben zu können.
Bei den beiden kurdischen Abgeordneten sei es genau umgekehrt gewesen. Die Gefängnisse waren völlig überfüllt. Die Zelle von Faysal Sariyıldı durfte er sogar angucken. Der Raum sei für acht Personen ausgelegt gewesen, habe eine Küche und einen Schlafraum enthalten.
Darin untergebracht seien aber 24 Personen gewesen. "Die haben erzählt, dass sie sich mit dem Schlafen abwechseln, weil sie nicht genug Platz haben." Der Gefängnisdirektor habe ihn dringend gebeten, auf die Zustände aufmerksam zu machen, sagt Hunko.
Zumindest für die Anwälte der drei Parlamentarier sei es befremdlich gewesen, dass er sich nicht ausschließlich für eine bestimmte Gruppe einsetze, gibt Hunko zu. Schließlich sei Balbay als Vertreter einer kemalistischen Partei völlig anderer Ansicht als die Kurden Sariyıldı und Irmak. Für ihn gehe es aber um das Prinzip, dass diese Menschen von der Justiz unverantwortlich behandelt würden: "Ich prangere diese Willkür an."
Jahrelange Untersuchungshaft, dann drakonische Strafen und möglicherweise kurz danach doch eine Freilassung. "Es geht ja nicht nur um die Abgeordneten. Es sind sehr viele Bürgermeister aus kurdischen Gebieten verhaftet worden, auch viele Journalisten." Als Abgeordneter habe er sich aber vorgenommen, sich auf seine Kollegen zu konzentrieren.
Alle von Hunkos Schützlingen sind inzwischen wieder frei und dürfen als Parlamentarier arbeiten. Sie haben sich einzeln bei türkischen Verfassungsgerichtshof beschwert, eine Möglichkeit, die es erst seit einer 2012 rechtskräftigen Verfassungsänderung gibt.
Der erste, der freikam, war Balbay, im Dezember 2013, wenige Monate nach seiner Verurteilung. Das Gericht entschied, dass die Untersuchungshaft unangemessen lang war und sein passives Wahlrecht verletzt worden sei. Im Januar 2014 kamen Irmak und Sariyıldı frei. (ske/21.07.2014)