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Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth bei ihrer Ansprache im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau © picture-alliance/dpa
Wohl 23.000 Sinti und Roma waren Gefangene im Abschnitt IIb des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, dem sogenannten „Zigeunerlager“. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) hat am Samstag, 2. August 2014, während der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Auflösung des „Zigeunerlagers“ darauf hingewiesen, dass nur 2.000 Menschen den Massenmord überlebt haben. 5.000 seien im Lager vergast, 2.900 bei der Räumung des Lagers in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 trotz Gegenwehr bestialisch ermordet worden. Die anderen Sinti und Roma seien dem Hunger, der Zwangsarbeit sowie Krankheiten und Seuchen im Lager zum Opfer gefallen.
Die Vizepräsidentin nahm als Vertreterin des Deutschen Bundestages an der Hauptzeremonie im ehemaligen deutschen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen teil und legte einen Kranz an der Gedenkstätte nieder. Veranstalter waren unter anderem das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma sowie der polnische Romaverband. Die Gedenkveranstaltung stand unter der Schirmherrschaft der polnischen Regierung. Die Bundesregierung war durch den Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), vertreten.
„An diesem Ort des Terrors wollen wir den Lebenden ein Versprechen geben: Nie wieder darf es in Europa ein solches Morden und systematisches Vernichten von Menschenleben geben wie es in Auschwitz unter der Herrschaft der Nationalsozialisten stattgefunden hat“, sagte Claudia Roth.
„Aus tiefstem Herzen“ entschuldigte sie sich „stellvertretend bei allen Sinti und Roma, die heute hier sind zum gemeinsamen Gedenken, für das unsagbare Unrecht und für die Gräueltaten, die Ihnen und Ihren Liebsten, Ihren Familien, ihren Freunden im Namen einer furchtbaren Ideologie angetan wurden. Ich schäme mich für das, was Deutsche Ihnen, oft auch Deutschen, angetan haben.“
Mehr als 20.000 tote Sinti und Roma in Auschwitz, zum großen Teil aus Österreich und Deutschland, und insgesamt 500.000 tote Sinti und Roma durch die systematische Verfolgung und „grauenhafte Tötung“ im Dritten Reich seien der Versuch gewesen, deren Kultur endgültig auszulöschen, betonte die Vizepräsidentin.
Heute könne man dennoch sagen, dass dies den Nazis nicht gelungen sei: „Es ist ihnen nicht gelungen, ganze Kulturen auszulöschen, den Reichtum der europäischen Völker zu zerstören. Sie haben tiefe Wunden und Traumata verursacht, haben den Reichtum der europäischen Kulturen vertrieben und geschwächt, aber sie konnten ihn nicht zerstören.“
70 Jahre nach dem Nazi-Terror könne sie „mit voller Überzeugung“ sagen: „Sinti und Roma gehören zur europäischen Kultur und sind fester Bestandteil unseres ethnischen und kulturellen Reichtums und unserer europäischen Gesellschaften, in denen sie seit vielen Jahrhunderten leben.“
Dieses Überleben und Dazugehören sei die schärfste Waffe gegen die versuchte Vernichtung durch die Nazis, und es sei die schärfste Waffe gegen die weiterhin bestehenden und beschämenden Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die Sinti und Roma in Europa erleben müssten.
Das Gedenken ermahne, „aufzustehen gegen jede Form von Menschenrechtsverletzungen in unserem Europa“. Man müsse sich dagegen auflehnen, wenn Sinti oder Roma der Zugang zur Gesundheitsversorgung, zum Bildungssystem und zum Arbeitsmarkt verweigert werde, wenn ihnen die elementarsten Teilhaberechte entzogen werden und wenn sie Opfer antiziganistischer Gewalt werden.
Es beschäme sie, sagte die Vizepräsidentin, wenn die Not, der viele Sinti und Roma in Europa auch heute noch ausgesetzt seien, nicht gesehen werde, wenn sie ignoriert und verschwiegen werde. Und es bewege sie sehr, dass sich viele Sinti und Roma heute oftmals immer noch nicht trauten, von sich als Sinti oder Roma zu sprechen: „Aus Angst vor Ausgrenzung, Herabwürdigung und erheblichen Nachteilen verstecken sie ihre eigene Identität.“
Für zwölf Millionen Sinti und Roma sei Europa „Heimat“, zu der sie dazugehören und in der sie gebraucht würden. „Deswegen ist dieses Gedenken heute auch ein Erinnern in die Zukunft und eine Verantwortung für die Gegenwart.“ Roth schloss mit dem Satz aus Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, sagte, der 2. August 1944 habe sich „tief in das kollektive Gedächtnis unserer Minderheit eingegraben“. Ziel müsse es sein, dass dieses historische Datum auch Eingang in das Gedächtnis Europas findet. „Erst wenn die europäische Nationen die Holocaust-Opfer der Sinti und Roma als Teil ihrer eigenen Geschichte und Erinnerungskultur und darüber hinaus als Verpflichtung für die Gegenwart begreifen, erst dann sind die Lehren aus dem furchtbaren Erbe des Nationalsozialismus wirklich gezogen“, betonte der Vorsitzende.
Besorgt zeigte sich Rose darüber, dass „rechtsradikale und gewaltbereite Parteien und Organisationen in Europa immer mehr um sich greifen“. Längst hätten sich die gegen Sinti und Roma gerichteten Vorurteilsstrukturen in der Mitte der Gesellschaft festgesetzt. Es sei heute wiederum die Abstammung, die allen negativen Zuschreibungen zugrunde gelegt werde, sagte Rose.
Claudia Roth traf sich im Anschluss an die Gedenkveranstaltung mit Jugendlichen der Organisation „Romane Aglonipe“ zu einem Gespräch über die Vergangenheit und die Gegenwart junger deutscher Roma. (vom/04.08.2014)