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Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von Union und SPD und gegen das Votum der Opposition hat der Bundestag am Freitag, 17. Oktober 2014, das erste Pflegereformgesetz (18/1798) in der vom Gesundheitsausschuss veränderten Fassung (18/2909) gebilligt. Das Gesetz sieht verbesserte Leistungen für Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte vor. Zudem greift ab 2015 ein einmaliger Inflationsausgleich in Höhe von vier Prozent. Um die höheren Ausgaben zu finanzieren, wird der Beitrag zur Pflegeversicherung Anfang nächsten Jahres um 0,3 Prozentpunkte auf dann 2,35 Prozent (2,6 Prozent für Kinderlose) erhöht. Mit dem zweiten Reformgesetz soll der Beitrag nochmals um 0,2 Punkte steigen. Dadurch werden rund sechs Milliarden Euro mehr pro Jahr in das Pflegesystem investiert.
Zunächst werden ab 2015 mit 2,4 Milliarden Euro jährlich (0,2 Prozentpunkte) die ausgeweiteten Pflegeleistungen finanziert. Davon gehen 1,4 Milliarden Euro in die häusliche und eine Milliarde Euro in die stationäre Pflege. Vorgesehen sind Verbesserungen bei der sogenannten Verhinderungs- und Kurzzeitpflege wie auch bei der teilstationären Tages- und Nachtpflege.
Künftig können Leistungen besser miteinander kombiniert werden. In der stationären und teilstationären Pflege wird die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte von 25.000 auf bis zu 45.000 erhöht. Demenzkranke erhalten nun auch Leistungen der Tages- und Nachtpflege, der Kurzzeitpflege oder den Zuschlag für Mitglieder ambulant betreuter Wohngruppen.
Weitere 1,2 Milliarden Euro (0,1 Prozentpunkt) gehen in einen Pflegevorsorgefonds. Ab 2015 werden rund 20 Jahre lang Beitragsgelder in den Fonds eingespeist und ab 2035 erneut 20 Jahre lang zur Stabilisierung der Beiträge von dort wieder entnommen.
Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit rund 2,5 Millionen über etwa 3,5 Millionen im Jahr 2030 auf mehr als vier Millionen im Jahr 2050 ansteigen. Nach 2055 soll die Zahl der Pflegefälle dann wieder sinken. Zu den Zielen der Reform gehört auch, die Bürokratie einzudämmen, Pfleger besser zu bezahlen und die Pflegeausbildung zu reformieren.
2017 soll mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden. Künftig soll es statt drei Pflegestufen fünf Pflegegrade geben, um die Pflegebedürftigkeit genauer zuordnen zu können. Dabei wird nicht mehr zwischen körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigungen unterschieden. Vielmehr soll der Grad der Selbstständigkeit im Alltag entscheidend sein. Das soll den Demenzkranken nachhaltig zugute kommen.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sprach in der Schlussdebatte von einer weiteren wichtigen Reform des Sozialstaates und erinnerte daran, dass Menschen allen Alters pflegebedürftig werden könnten. Der Minister versprach, es werde auf jeden Fall auch die zweite Reformstufe mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wie geplant umgesetzt. Gröhe dankte den Familienangehörigen für ihr großes Engagement in der Pflege. Diese Menschen hätten Anspruch auf Unterstützung, um auch einmal eine Atempause zu bekommen.
Gröhe verteidigte den Ausbau sogenannter niedrigschwelliger Entlastungsangebote, also einfacher Haushaltshilfen, für die bis zu 40 Prozent des Leistungsbetrags der ambulanten Pflege eingesetzt werden können. Dies sei ein wichtiger Schritt zur individuellen Betreuung. Ferner würden höhere Zuschüsse gewährt für behindertengerechte Umbauten und für Wohngruppen. Diese Verbesserungen folgten dem Bedürfnis der Menschen, so lange wie möglich zu Hause betreut zu werden.
Auch aus Sicht der SPD ist die Reform ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit, zumal Pflegeleistungen künftig nicht allein deswegen als unwirtschaftlich gelten dürfen, weil für sie Tariflöhne gezahlt werden. Hilde Mattheis (SPD) betonte, die Pflegereform sei "ein Köcher an Maßnahmen" und spielte damit auf das zweite Pflegestärkungsgesetz an sowie das unlängst im Kabinett verabschiedete Pflegezeitgesetz und das geplante Pflegeberufegesetz.
Zudem werde in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe beraten, wie die Pflege auch auf kommunaler Ebene besser verankert werden könne. Ferner gelte es, die Pflegefachkräfte zu unterstützen. Sie müssten gut bezahlt werden und bräuchten gute Bedingungen, damit sie trotz der psychischen und physischen Belastung bei ihrem Beruf blieben.
Mechthild Rawert (SPD) ergänzte, das aktuelle Gesetz sei Teil eines größeren Vorhabens, mit dem die Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessert und Pflegeberufe aufgewertet würden. Sie machte ebenso wie Gesundheitsexpertinnen der Linken und Grünen deutlich, dass in der Pflege eigentlich eine solidarische Bürgerversicherung angestrebt werde. Für die SPD habe aber der Koalitionsvertrag mit der Union Vorrang.
Die Union hält den Fonds dagegen für eine weitsichtige Einrichtung. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) versicherte, das Geld werde gut angelegt. Niemand werde sich im Übrigen trauen, das angesparte Geld anzufassen. In einer Anhörung hatten Experten die Befürchtung geäußert, die Mittel könnten zweckentfremdet werden.
Die Opposition bezweifelt, dass die zusätzlichen Gelder für die Pflegereform reichen und lehnt auch den Vorsorgefonds scharf ab. Die Linke-Abgeordnete Katja Kipping monierte, hier werde das Geld der Beitragszahler "abgezweigt und auf die Finanzmärkte geworfen". Das sei "finanzpolitisches Harakiri".
Die Linke-Abgeordnete Pia Zimmermann kritisierte den Ausbau der niedrigschwelligen Angebote. Dies werde den Trend zur Minutenpflege und zur prekären Beschäftigung in der Pflege verstärken und sei ein "Einfallstor zur Absenkung der Qualitätsstandards". Gemessen an den gravierenden Problemen und Zukunftsherausforderungen sei dieses Gesetz der Tropfen auf den heißen Stein und keine große Pflegereform. So müsse für Pflegeleistungen regelmäßig ein Inflationsausgleich gewährt werden.
Elisabeth Scharfenberg (Bündnis 90/Die Grünen) sprach mit Blick auf die zweite Reformstufe, in der ein neuer Pflegebegriff definiert werden soll, von einer "fernen Oase weit weg im Nebel". Auf solche Versprechungen, die seit Jahren gemacht würden, sei nicht viel zu geben. Im Übrigen sei es überfällig gewesen, mehr Geld für Pflege in die Hand zu nehmen. Die Reform verkörpere aber keine Idee, "sie ist teuer und luftleer und ohne Vision". Der Vorsorgefonds sei sozialpolitisch ebenso unsinnig wie der Pflege-Bahr. Das Geld fehle am Ende für die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs.
Die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink hielt der Union vor, über Jahre hinweg eine überfällige Pflegereform versäumt zu haben. Nun werde eine Reform in "Trippelschritten" vorgelegt. Das sei zu wenig.
Jens Spahn (CDU/CSU) verteidigte die Pflegereform und hielt der Opposition "Brachialrhetorik" vor. Während sich die Grünen in irgendwelchen Theoriegebäuden verlören, gelte für die Union: ""Wir sind bei den Menschen." Allein die Aufstockung der stationären Betreuungskräfte führe zu seiner Entlastung und mehr Zeit für die Menschen.
Spahn betonte mit Blick auf die enormen Kraftanstrengungen in der Alltagspflege, die pflegenden Angehörigen bräuchten "Inseln der Erholung". Mit der Reform werde auch die Bürokratie abgebaut. So werde in der Pflege nicht mehr alles dokumentiert, sondern nur noch das, was anders und ungewöhnlich sei. Auch dies schaffe Zeit für die Betreuung. Spahn sprach von einem "guten Tag für Pflegebedürftige in Deutschland".
In namentlicher Abstimmung lehnte der Bundestag einen Änderungsantrag der Linken (18/2912) zu dem Gesetz ab. 463 Abgeordnete votierten dagegen, 113 stimmten ihm zu. Die Fraktion hatte eine sozialpolitische Ungerechtigkeit drin gesehen, dass verschiedene Träger der Sozialhilfe häusliche Betreuung im Rahmen der Hilfe zur Pflege nicht übernehmen und verlangt, diese Lücke zu schließen.
Bei 460 Gegenstimmen und 114 Ja-Stimmen lehnte das Parlament auch einen Änderungsantrag der Grünen (18/2915) ab. Die Fraktion wollte die für den Pflegevorsorgefonds vorgesehen Finanzmittel für eine „angemessene Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ verwenden. Dieses Anliegen vertrat auch Die Linke in einem weiteren Änderungsantrag (18/2913), der gegen die Stimmen der Opposition keine Mehrheit fand. Ein dritter Änderungsantrag der Linken (18/2914) zielte darauf ab, einen Entlastungsbetrag einzuführen, der es ermöglicht, die Leistungen zur Verhinderungs- und Kurzzeitpflege sowie die Betreuungsleistungen je nach Bedarf zu kombinieren. Die Grünen enthielten sich dazu, die Koalition lehnte ihn ab.
In namentlicher Abstimmung scheiterte die Linksfraktion zudem mit einem Entschließungsantrag (18/2916), den 465 Abgeordnete ablehnten. 55 Parlamentarier stimmten dafür, 57 enthielten sich. Darin wurde die Regierung unter anderem aufgefordert, einen Gesetzentwurf für eine grundlegende Reform der Pflegeabsicherung auf der Grundlage bestimmter Maßgaben vorzulegen.
Für einen Entschließungsantrag der Grünen (18/2917) stimmten 112 Abgeordnete, während 464 ihn ablehnten. Die Grünen verlangten unter anderem einen verbindlichen Zeitplan für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
Keine Mehrheit fand ferner ein Antrag der Linken (18/1953, 18/2909), die gesetzliche Pflegeversicherung neu aufzustellen und finanziell besser zu untersetzen. Die Fraktion hatte unter anderem eine Abkehr vom „Teilkostenprinzip“ und die Einführung einer „solidarischen Gesundheitsversicherung“ (Bürgerversicherung) gefordert, um auch die Pflegekosten langfristig abzusichern. Die Koalition lehnte diese Initiative ab, die Grünen enthielten sich.
Ebenfalls gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen lehnte das Parlament einen Antrag der Linksfraktion (18/591) ab, Deckungslücken der sozialen Pflegeversicherung zu schließen und den sogenannten Pflege-Bahr, die staatliche geförderten Pflegezusatzversicherungen, abzuschaffen. Bisher geschlossene Zusatzverträge sollten auf Wunsch der Versicherten rückabgewickelt werden können, hatte die Fraktion beantragt. Dem Beschluss lag eine Empfehlung des Gesundheitsausschusses (18/2901) zugrunde.
(pk/17.10.2014)