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Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat die friedlichen Revolutionen vor 25 Jahren als „Glücksfall der Geschichte“ bezeichnet. In einer vereinbarten Debatte aus Anlass des 25. Jahrestages des Mauerfalls sagte Lammert am Freitag, 7. November 2014, im Plenum des Bundestages, die Beispiele der jüngsten Demokratisierungsbewegungen zeigten allerdings, dass der glückliche Ausgang einer Freiheitsbewegung keiner Regel folge und nicht sicher sei. Auch der Glaube, dass individuelle Freiheit, nationale Selbstbestimmung und territoriale Integrität in Europa nun unangefochten seien, erweise sich als gut gemeinte Illusion.
Ein beiläufig vorgelesener Zettel auf einer inzwischen legendären Pressekonferenz in Ost-Berlin habe am 9. November 1989 eine Lawine ins Rollen gebracht, die sich nicht mehr stoppen ließ, sagte der Bundestagspräsident. Die Bilder der Menschen, die die Grenzübergänge in Berlin stürmten, seien um die Welt und unter die Haut gegangen.
Der Mauerfall habe sich in das kollektive Bewusstsein der Deutschen eingeprägt, so Lammert, und sei weltweit zum Symbol der Überwindung autoritärer Systeme in Mittel- und Osteuropa geworden. Es seien nicht nur in Deutschland bemerkenswerte Veränderungen herbeigeführt worden, sagte der Präsident mit Blick auf die revolutionären Ereignisse in anderen ehemaligen Ostblockländern. Wenn sie nur in Deutschland stattgefunden hätten, "hätten sie vielleicht auch in Deutschland nicht stattgefunden", mutmaßte Lammert unter dem Beifall des Hauses.
Der Bundestag sei in diesen Tagen in einem von Bürgerrechtlern, Historikern, ehemaligen Abgeordneten und Künstlern unterzeichneten Aufruf aufgefordert worden, mit einem Mahnmal an die Mauertoten und all die anderen Opfer der SED-Diktatur zu erinnern.
Die weißen Kreuze, die nur wenige Meter vom Reichstagsgebäude an der Spree angebracht waren und die an die Mauertoten erinnern sollen, seien vor einigen Tagen gestohlen worden: „Mit einer heldenhaften Attitüde und einer pseudohumanitären Begründung, die man für blanken Zynismus halten muss“, sagte Lammert und fügte unter großem Beifall hinzu: „Wir werden sie ersetzen. Und sie werden dort bleiben.“
Der Liedermacher Wolf Biermann trug im Anschluss sein Lied "Ermutigung" vor, das mit der Zeile "Du lass dich nicht verhärten" beginnt. An die Abgeordneten der Linken gerichtet sagte er: "Ihr seid verurteilt, das hier zu ertragen" und "die hier sitzen, sind der elende Rest dessen, was zum Glück überwunden ist".
In Filmsequenzen, die im Plenarsaal gezeigt wurden, erinnerte das Parlament an die Ereignisse vor 25 Jahren und an die Bundestagssitzung im Bonner Wasserwerk, als die Nachricht von der Grenzöffnung bekannt wurde.
Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) gehört zu den elf Abgeordneten, die dem Bundestag bereits vor 25 Jahren angehörten. Ein gewöhnlicher Sitzungsdonnerstag im Bundestag sei zum Schicksalstag der Deutschen geworden, eine "außergewöhnliche Nacht, die die Welt veränderte". Von den Bildern sei eine Symbolkraft ausgegangen, "als würde man in jedem Gesicht die Freiheit sehen". Dafür, dass alles ohne Blutvergießen vor sich ging, empfinde sie noch heute Dankbarkeit.
Hasselfeldt erinnerte auch an die Leistung von Bundeskanzler Helmut Kohl, der die einmalige Chance zur deutschen Einheit mit Mut und Überzeugungskraft ergriffen habe, in einer Zeit, als im Westen die Bereitschaft wuchs, sich mit einer Zweistaatlichkeit zu arrangieren. Der 9. November solle Verpflichtung und Auftrag sein, für die Werte einzutreten, "für die ein ganzes Volk im Herbst 1989 mutig gekämpft hat".
Für Iris Gleicke (SPD) war die Mauer ein "monströses Bauwerk", ein "Albtraum für ein ganzes Volk". "Man kann die Mauer einordnen, aber man kann sie nicht rechtfertigen", sagte die Thüringer Abgeordnete unter Beifall. Der Konsens "Nie wieder Faschismus, nie wieder Konsens" müsse fortbestehen. Gleicke erinnerte daran, dass die Deutschen in Ost und West für den Zweiten Weltkrieg unterschiedlich bezahlt hätten.
Es sei "unglaublich viel" erreicht worden, um die Folgen der Teilung zu beseitigen, betonte die heutige Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder: "Und den Rest, den schaffen wir auch noch", sagte sie unter Beifall. Es sei noch ein ganzes Stück Weg gemeinsam zu gehen, "ohne Erbsenzählerei über die Kosten der Einheit".
Dr. Gregor Gysi (Die Linke) nannte es eine "historische Leistung aller Beteiligten in der DDR", dass es im Herbst 1989 zu keiner Gewalt kam. Der Fall der Bauer sei für die DDR-Bürger ein ungeheurer Befreiungsakt gewesen, die Reisebeschränkungen "waren nicht hinnehmbar". Die DDR sei eine Diktatur, kein Rechtsstaat gewesen.
Der Mauerfall habe auch das Leben der Westdeutschen, der Europäer verändert. Wenn einiges aus der DDR übernommen worden wäre, hätten auch die Westdeutschen eine "Qualitätssteigerung" erfahren, sagte Gysi. Es sei nicht zu viel verlangt, wenn gleiche Löhne und gleiche Renten in Ost und West gezahlt werden würden. Die Mauer in den Köpfen müsse noch überwunden werden. Gysi empfahl, den 25. Jahrestag der deutschen Einheit 2015 in Leipzig zu feiern.
Für Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) sind 25 Jahre mehr als ein Jubiläum: eine Generation. Deutschland sei heute ein anderes Land, aber das Vergangene sei nicht vorbei, sagte sie. "Die Selbstemanzipation eines Volkes begleitet uns bis heute." Die DDR sei politisch bankrott gewesen, ein Unrechtsstaat, ein Staat ohne demokratische Selbstbestimmung, ,ohne Transparenz: "Eine Diktatur."
Es gehe nicht darum, Biografien von früher zu be- oder entwerten, betonte die Fraktionschefin der Grünen. "Unsere besondere Aufmerksamkeit muss zuerst denen gelten, die gelitten haben und manchmal bis heute unter dem leiden, was ihnen angetan wurde", sagte sie. 25 Jahre hätten viele Biografien, das Land und die Landschaften verändert. Das "wunderbarste Geschenk, das wir bekommen haben", sei aber die Freiheit gewesen.
Arnold Vaatz (CDU/CSU) sagte,der Mauerfall sei von jenen bewirkt worden, die im Herbst 1989 in Scharen die DDR verlassen hätten: "Sie wollten den Zustand hinter sich lassen, der sie einengt und sie ihrer Würde beraubt." Nach dem Mauerfall habe alle härteste Arbeit erwartet, um der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen.
In erster Linie seien die DDR-Bürger nicht Untertanen der SED, sondern der Sowjetunion gewesen. Es mache ihn nachdenklich, so der Abgeordnete aus Sachsen, wenn er höre, wie eine Regierung in Kiew heute pauschal als Faschisten beschimpft werde.
Die Debatte endete mit dem gemeinsam gesungenen Lied der Deutschen. (vom/07.11.2014)