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Die Ukraine strebt an, bis 2020 die Kriterien für einen Beitritt in die EU zu erfüllen. Das sagt der ukrainische Parlamentspräsident Wolodymyr Hrojsman in einem am Montag, 30. März 2015, erschienenen Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Er räumt ein, dass sein Land bis dahin noch große Aufgaben zu bewältigen habe, etwa eine umfassende Modernisierung der Industrie. „Das hätte eigentlich schon vor zehn Jahren stattfinden müssen, heute ist diese Aufgabe erst recht unausweichlich“, sagt Hrojsman. Das Interview im Wortlaut:
Herr Hrojsman, der Bundestag hat für das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, Georgien und Moldau gestimmt. Was bedeutet das für ihr Land?
Zunächst möchte mich herzlich bei Bundestagspräsident Norbert Lammert für die Einladung an diesem besonderen Tag danken. Die Beschlussfassung zum Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ist ein historisches Datum. Es ist außerordentlich wichtig für die europäische Integration der Ukraine, und die Zustimmung des Bundestages ist ein weiterer Erfolg auf dem Weg, für den die Menschen während unserer „Revolution der Würde“ gekämpft haben. Ich konnte die Debatte im Plenum verfolgen. Beeindruckt hat mich die breite Unterstützung für die europäische Perspektive der Ukraine. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Anwesenheit während dieser Debatte unterstrichen, wie wichtig dies für die Europäische Union ist. Das ist in meinen Augen auch für die anderen Staaten ein positives Signal, denen dieser Ratifizierungsprozess noch bevorsteht.
Eine brüchige Waffenruhe im Osten des Landes, ein Einbruch beim Wirtschaftswachstum von minus 7,5 Prozent im vergangenen Jahr: Welcher Gestaltungsspielraum bleibt der ukrainischen Politik?
Es gibt eine Aggression Russlands gegen unser Land, das ist ganz offensichtlich. Es ist der Versuch, die Ukraine zu destabilisieren und sie von ihrem Weg der europäischen Integration abzubringen. Wir stehen vor großen Herausforderungen. In den 24 Jahren seit der Unabhängigkeit ist es uns leider nicht gelungen, wirksame Reformen in Angriff zu nehmen, unser Land erfolgreich zu modernisieren. Wir sind entschlossen, diese Reformen jetzt anzugehen. Das neue, demokratisch gewählte Parlament in Kiew hat diese Entschlossenheit schon unter Beweis gestellt.
Mit welchen konkreten Schritten?
Die Rada hat in den wenigen Monaten seit der Wahl im vergangenen Herbst Gesetze im Kampf gegen die Korruption angenommen und Beschlüsse zur Dezentralisierung und zu Fragen des Gerichtswesens und der nationalen Sicherheit gefasst. Wir sind uns bewusst, dass wir erst am Anfang stehen und dass es ein sehr steiniger Weg sein wird. Deshalb braucht die Ukraine Unterstützung von all ihren Partnern in der Welt. Ich bin mir sicher, dass unser Land aus dieser Krise gestärkt hervorgehen wird.
Das Assoziierungsabkommen verlangt den Ukrainern große Reformbereitschaft ab. Im Zusammenhang mit einem IWF-Kredit dürften zum Beispiel bald die Energiepreise für Privathaushalte drastisch steigen. Überfordert der Modernisierungsdruck womöglich die ukrainische Gesellschaft?
Ich glaube, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen Verständnis für die Notwendigkeit dieser Reformen aufbringen. Der Modernisierungsstau ist das Ergebnis der Versäumnisse der vergangenen Jahre. Einige Reformen werden sehr schmerzlich sein. Wir stehen zum Beispiel vor der Aufgabe, den Energiesektor zu modernisieren. Die Ukraine ist bei den Gaslieferungen abhängig von Russland. Es geht hier also nicht nur einfach um die Frage der Energieversorgung, sondern - mit Blick auf die Aggression Russlands - um elementare Fragen unserer nationalen Sicherheit.
Eines der wichtigen Ziele der Majdan-Revolution war der Kampf gegen die Korruption und die Entmachtung der Oligarchen. Wie weit ist Ihr Land auf diesem Weg gekommen?
Gerade in den vergangenen Tagen ist auf diesem Feld viel geschehen. Präsident Petro Poroschenko hat sich für die Abberufung des umstrittenen Gouverneurs des Gebiets Dnipropetrowsk entschieden. Das Parlament hat der Einrichtung eines Antikorruptionsbüros zugestimmt und außerdem Regelungen auf den Weg gebracht, die die Transparenz bei staatlichen Unternehmen garantieren sollen. Der Einfluss des Großkapitals auf die Wirtschaft und auf politische Entscheidungen muss begrenzt werden.
Wichtige Industrieregionen der Ukraine - Dnipropetrowsk, Saporischschja und Charkiw - sind wirtschaftlich eng mit Russland verflochten. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Industrieproduktion mit der Öffnung zur EU Schaden nimmt?
Die Industrie in der Ukraine muss dringend modernisiert werden. Das hätte eigentlich schon vor zehn Jahren stattfinden müssen, heute ist diese Aufgabe erst recht unausweichlich. Ebenso dringlich ist es, dass sich unsere Unternehmen neue Abnehmer erschließen. Die traditionellen Märkte noch aus Zeiten der Sowjetunion, insbesondere der russische Markt, werden zukünftig nicht mehr tragen. Man darf nicht vergessen, dass wir es neben einer militärischen Aggression durch Russland ja auch mit einer wirtschaftlichen Aggression gegen unser Land zu tun haben.
Soll die Ukraine Mitglied der EU werden und womöglich auch der Nato?
Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, alles dafür zu tun, damit wir bis zum Jahr 2020 die Beitrittskriterien erfüllen und dann einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union stellen können.
Welche Vorschläge gibt es für die neue Verfassung der Ukraine, welchen Status sollen die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk erhalten?
Wir sind mitten im Prozess einer verfassunggebenden Versammlung, sie wurde von Präsident Poroschenko einberufen. Man hat mich als Vorsitzenden vorgeschlagen. Der Präsident wird gemeinsam mit dem Parlament an den Reformen arbeiten. Vorrangige Aufgaben sind die Dezentralisierung und die Schaffung eines Systems einer tatsächlichen örtlichen Selbstverwaltung.
Welche Optionen bleiben, wenn der Konflikt in der Ostukraine erneut eskaliert?
Das Minsker Abkommen vom Februar dieses Jahres muss eingehalten werden. Man muss hinzufügen, dass es sich hierbei nicht um einen regional begrenzten Konflikt handelt, der nur zwei Regionen im Osten der Ukraine betrifft. Dem ist nicht so. Es ist ein globaler Konflikt, der ganz Europa angeht. Eine Eskalation, eine Verschärfung der Aggression gegen die Ukraine, würde früher oder später jedes europäische Land betreffen. Ich kann verstehen, dass es sehr schwer vorstellbar ist, dass diese Gefahr tatsächlich existiert, insbesondere in Ländern, die ein sehr hohes Lebensniveau erreicht haben. Aber diese Gefahr betrifft uns gemeinsam und sie ist real.
Sprechen die EU-Mitglieder aus Ihrer Sicht mit einer Sprache?
Man muss sich vor Augen führen, dass es in diesem Konflikt um Werte geht, die alle europäischen Länder einen, auch wenn sie verschiedenen Sprachen sprechen. Es sind die Werte der Freiheit, der Menschenrechte, der Demokratie und der territorialen Integrität jedes Landes. Es ist ein Fehler, anzunehmen, dass dieser Konflikt nicht die gesamte Europäische Union beträfe. Der deutsche Theologe Martin Niemöller hat gesagt: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Mir scheint, dass dieses Zitat die heutige Situation beschreibt.
(ahe/30.03.2015)