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Zur Verhinderung von Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer plädiert Heinz-Joachim Barchmann für einen schnellen Ausbau der Seenotrettung, der über die unzulänglichen EU- Pläne hinausreiche. Der SPD-Abgeordnete kritisiert im Interview, dass sich Brüssel zu sehr auf die Abwehr von Migrationsströmen mit repressiven Mitteln wie der Zerstörung von Schlepperbooten konzentriere. Über die Flüchtlingspolitik debattiert am Montag, 11. Mai, und Dienstag, 12. Mai 2015, in Lissabon die Parlamentarische Versammlung der Union für den Mittelmeerraum. Barchmann ist stellvertretender Leiter der Bundestagsdelegation. Das Interview im Wortlaut:
Herr Barchmann, kann Ihre Versammlung auf die Flüchtlingspolitik Einfluss nehmen? Echte Kompetenzen hat dieses Gremium ja nicht.
Wir veranstalten nicht nur einmal im Jahr eine Plenartagung, mehrmals im Jahr treffen sich zudem fünf Fachausschüsse. Inhaltlich ist angesichts der großen Zahl von Staaten, die Delegierte zur Versammlung entsenden, oft nur ein allgemeiner Grundkonsens möglich. Das hat auch damit zu tun, dass Israel und Palästina als gleichberechtigte Mitglieder eingebunden sind. Bei vielen Fragen sind jedoch alle Mittelmeeranrainer gleichermaßen betroffen. Dies gilt auch für die Flüchtlingspolitik, wobei die EU die spezifischen Interessen der südlichen Mittelmeeranrainer stärker berücksichtigen müsste. Mit der Debatte über gemeinsame Probleme vor Ort leistet die Mittelmeerunion einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum gegenseitigen Verständnis. Diese wichtige Funktion ermöglicht häufig erst Fortschritte auf anderen Ebenen.
Innerhalb der EU herrscht zur Flüchtlingsfrage keineswegs Übereinstimmung, und auch die südlichen Mittelmeeranrainer nehmen keine einheitliche Haltung ein. Sehen Sie gleichwohl Chancen, in Lissabon eine gemeinsame Position in der Flüchtlingspolitik zu entwickeln?
Einig ist man sich an allen Küsten des Mittelmeers, dass es kein "Weiter so" geben kann. Es müssen Mechanismen gefunden werden, mit denen in Zukunft Flüchtlings- Katastrophen verhindert werden können. Dieses Zeichen wird von der Konferenz sicher ausgehen, und es ist als Signal an die Regierungen zu sehen, sich der gemeinsamen Verantwortung nicht zu entziehen. Dies gilt für die südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer, aber besonders für die EU.
Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich vor allem auf das humanitäre Drama um kenternde Todesboote mit Flüchtlingen. Die EU will deshalb die Seenotrettung ausbauen. Allerdings kursieren Berichte über Befürchtungen in Brüssel, Rettungsmaßnahmen auch weit vor Italiens Küste würden noch mehr Leute zur Flucht in die EU animieren.
Natürlich benötigen wir sofort eine wirksame Seenotrettung. Hilfe zu unterlassen, weil man damit vermeintlich zur Flucht animiert, wäre zynisch. Die EU-Beschlüsse zur Verdreifachung der Mittel für die Operationen "Triton" und "Poseidon" für 2015 und 2016 können deshalb nur ein erster Schritt sein. Da sie sich lediglich auf die hoheitliche Zwölf-Meilen-Zone Italiens erstrecken, reichen diese Missionen jedoch bei weitem nicht aus. Wir brauchen dringend eine Ausweitung, mindestens im Umfang der früheren italienischen Operation "Mare Nostrum".
Seit Jahren wird propagiert, man müsse die aus Schwarzafrika durch die arabischen Länder zur nordafrikanischen Küste führenden Fluchtrouten unterbrechen und besonders den Schleusern das Handwerk legen. Warum ist diese Strategie bislang gescheitert?
Man hat sich bislang zu sehr auf die direkte Nachbarschaft der EU beschränkt. Inzwischen hat die Brüsseler Kommission eine Debatte über die Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik angestoßen. Dabei geht es auch um die Frage, wie die "Nachbarn der Nachbarn" besser in die EU-Politik einbezogen werden können. Die Fluchtrouten beginnen ja nicht erst in den Anrainerstaaten des Mittelmeers.
Jetzt ist die Rede davon, die Boote der Schleuser zu zerstören. Ist das erfolgversprechend?
Die von den Staats- und Regierungschefs in der EU propagierte Neuorientierung der Flüchtlingspolitik ist bisher noch zu unausgewogen. Repressive Elemente wie das Zerstören von Schlepperbooten werden zu stark betont. Der Schwerpunkt liegt wie bislang auf Maßnahmen zur Grenzkontrolle und zur Abwehr von Migrationsströmen. Doch wie sollen Grenzschützer jemals zwischen Schlepper- und Fischerbooten unterscheiden können?
Wie könnte aus Ihrer Sicht eine in sich schlüssige Flüchtlingspolitik im Mittelmeerraum aussehen?
Alle EU-Länder müssen sich endlich ihrer gemeinsamen Verantwortung stellen. Akut geht es um die Rettung von Bootsflüchtlingen. Anstelle repressiver Maßnahmen sollte man sich auf die Schaffung legaler Migrationswege für Bürgerkriegsflüchtlinge und auf die Bekämpfung von Fluchtursachen konzentrieren. Menschen retten, legale Migrationsrouten eröffnen und Fluchtursachen beseitigen - dieser Dreiklang ist die beste Antwort, um Menschenhändler und Schlepper zu bekämpfen. Eine Abschottung der EU vor Flüchtlingen ist weder realistisch noch menschlich.
(kos/05.05.2015)