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Für ihre Forderung, 70 Jahre nach Kriegsende überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine symbolische Entschädigung zukommen zu lassen, haben die Fraktionen der Grünen und Linken am Montag, 18. Mai 2015, in einer öffentlichen Anhörung im Haushaltsausschuss unter Vorsitz von Dr. Gesine Lötzsch (Die Linke) einhellige Unterstützung der sechs geladenen Sachverständigen gefunden. Unter den Opfern des Nationalsozialismus waren gefangene Angehörige der Roten Armee nach den Juden die zweitgrößte Gruppe. Etwa drei Millionen von insgesamt mehr als fünf Millionen starben an Hunger, Krankheiten und Entkräftung. Zehntausende wurden von Wehrmacht und SS erschossen. Historiker sehen dahinter ein rassenideologisch motiviertes Kalkül der Machthaber des Dritten Reiches. Das Schicksal der sowjetischen habe sich insofern von dem der Kriegsgefangenen aus westlichen Ländern unterschieden.
Bei der Entschädigung ehemaliger osteuropäischer Zwangsarbeiter durch die im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ wurden Kriegsgefangene ausgeklammert. Antragsberechtigt waren nur jene ehemaligen Rotarmisten, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren. Eine erste Bundestagsinitiative, nun auch die Überlebenden dieser Gruppe generell zu entschädigen, scheiterte vor knapp zwei Jahren an der damaligen Mehrheit von Union und Liberalen.
Im vorigen Herbst setzten zunächst die Grünen (18/2694), dann die Fraktion der Linken (18/3316) das Anliegen erneut auf die Tagesordnung. Bundespräsident Joachim Gauck sprach sich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes ebenfalls dafür aus, die Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem „Erinnerungsschatten“ zu holen. Schätzungen zufolge könnten noch 2.000 bis 3.000 Betroffene in den Genuss einer Entschädigung kommen.
In der Anhörung wies der Völkerrechtler Prof. Dr. Jochen A. Frowein darauf hin, dass die Bundesregierung zwar zu Recht die Frage von Reparationen für erledigt halte. Es sei ihr aber unbenommen, durch „einseitige Maßnahmen“ Wiedergutmachung zu leisten. Obwohl dies bisher schon „in beispielloser Weise“ geschehen sei, gebe es Betroffene, die bis heute unberücksichtigt blieben: „Insofern halte ich diese Überlegungen für ernsthaft notwendig.“
Ein für Deutschland nachteiliger völkerrechtlicher Präzedenzfall könne daraus nicht erwachsen. Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen sei so singulär, dass daraus keine weiteren Ansprüche abzuleiten seien.
Wichtiger als die Summe einer symbolischen Entschädigung sei, dass sie „so schnell wie irgend möglich“ erfolge, sagte der Historiker Dr. Christian Streit, der 1978 die erste grundlegende Studie über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im Dritten Reich vorgelegt hat: „Man muss damit rechnen, dass die Zahl der Betroffenen täglich abnimmt. Wenn das irgendeine Wirkung haben soll, muss schnell gehandelt werden.“ Den sowjetischen Kriegsgefangenen seien grundlegende Rechte vorenthalten worden. Ihr Schicksal entspreche dem von KZ-Insassen.
Sie seien insofern Opfer spezifisch nationalsozialistischen Unrechts, als die Täter sich primär von rassenideologischen Erwägungen hätten leiten lassen, betonte Dr. Rolf Keller von der „Stiftung niedersächsische Gedenkstätten“.
Die Heidelberger Osteuropa-Historikerin Prof. Dr. Tanja Penter erinnerte daran, dass Heimkehrer aus deutscher Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion als Verräter diffamiert und vielfach ins Straflager verschleppt worden seien.
Umso wichtiger sei für die Überlebenden eine Anerkennung des Unrechts von deutscher Seite, weil es helfen könne, dieses Stigma nach Jahrzehnten von ihnen zu nehmen. (wid/19.05.2015)