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Sabina Ljuca macht sich Sorgen. „Alle jungen Leute, die ich kenne, wollen nach dem Studium das Land verlassen“, beklagt die 27-Jährige aus Bosnien-Herzegowina. Es drohe ein „Brain Drain“, also der massenhafte Weggang qualifizierter junger Leute, sagt sie. Und, dass sie dem etwas entgegensetzen möchte. „Ich würde gern ein Projekt entwickeln, mit dem junge Menschen die Chance bekommen, in Bosnien zu bleiben“, sagt die Juristin, die Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Europarecht an der Universität Sarajevo studiert hat. Denn: „Wenn nicht unsere Generation Bosnien zum Guten verändert, wer dann?“, fragt sie. Derzeit ist Sabina Ljuca allerdings selbst fern der Heimat. Im Büro der SPD-Bundestagsabgeordneten Hiltrud Lotze absolviert sie noch bis Ende Juli ein Praktikum im Rahmen des Internationalen Parlamentsstipendiums (IPS) des Bundestages. „Hautnah zu erleben, wie die Demokratie funktioniert – etwas Besseres gibt es doch für eine Juristin kaum“, freut sie sich.
Mit Deutschland verbindet Sabina Ljuca ohnehin eine außerordentlich enge Beziehung. Als knapp Vierjährige kam sie einst als Bürgerkriegsflüchtling nach Deutschland – lebte vier Jahre mit Mutter und Bruder in Konstanz am Bodensee, während der Vater für die Unabhängigkeit Bosniens kämpfte. „Ich liebe Deutschland“, sagt die junge Bosnierin, und es klingt nicht pathetisch, sondern ehrlich.
Wie die Deutschen sei sie, schätzt Sabina Ljuca ein, „offen und diszipliniert“. Disziplin ist ein Schlüsselwort für die 27-Jährige. „Mit Disziplin und harter Arbeit kann man alles erreichen“, sagt sie. Dass könne man von den Deutschen lernen. Doch gerade mit der Disziplin klappe es nicht nur in Bosnien, sondern auch den meisten anderen Ländern Südosteuropas nicht so gut, fügt sie augenzwinkernd hinzu.
Der jungen Generation in ihrer Heimat stellt sie ein eher bescheidenes Zeugnis aus. „Sie wirken irgendwie apathisch und glauben, in einem Wartezimmer zu sitzen. Es wird die jungen Menschen aber keiner an die Hand nehmen und ihnen den Weg weisen“, stellt sie klar. Die Initiative müsse vielmehr von jedem Einzelnen ausgehen. „Man muss sich fragen: Was kann ich tun, damit das Leben in meiner Heimat lebenswert ist?“
Bosnien, das macht sie deutlich, befinde sich seit 20 Jahren in der Krise. „Im Grunde hat sich die Lage seit Kriegsende nicht verbessert. Die politische Lage ist sehr instabil“, schätzt sie ein. Ein Schritt vor und zwei zurück – so sehe das Entwicklungstempo aus. „Da kommt man natürlich nicht so recht voran.“
Dabei ist das Ziel klar, meint zumindest Sabina Ljuca. „Wir wollen in die EU, das ist unsere Zukunft.“ Große Hoffnungen verbindet sie mit dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen Bosnien und der EU, das zwar schon 2009 parafiert wurde, seit dem 1. Juni dieses Jahres aber erst in Kraft ist.
Hintergrund der „Verspätung“ ist nach Aussage der Bosnierin die Nichtumsetzung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Dieser habe moniert, dass in Bosnien nur die Angehörigen der drei konstitutiven Völker - Bosniaken, Kroaten und Serben - für höchste Staatsämter kandidieren dürfen.
Anderen, wie etwa Angehörige der jüdischen Minderheit oder der Roma-Gemeinde, sei dies nicht erlaubt. „Daher stellt das passive Wahlrecht in Bosnien ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar, und sogar nach zwei Legislaturperioden fanden die bosnischen Politiker keinen Kompromiss in dieser Frage“, erläutert die Juristin. Deswegen sei es zu einer „Akzentverschiebung“ gekommen.
„Der Akzent des Abkommens liegt bei der Wirtschaft und der Rechtsstaatlichkeit“, sagt Sabina Ljuca. In diesen Bereichen müsse die Regierung jetzt Reformen einleiten. „Wenn das gelingt, kann es einen ersten Schritt hin zu einem glaubwürdigen EU-Beitrittsantrag darstellen“, betont sie die Wichtigkeit.
Was aber ist der Grund dafür, dass die Entwicklung in Bosnien seit 20 Jahren nicht vorankommt? Sabina Ljuca verweist auf die ethnischen Spannungen im Land. Zwar sei Bosnien-Herzegowina ein eigenständiger Staat – wie im Friedensabkommen von Dayton geregelt.
Doch sei das Land praktisch in drei Teile getrennt: In die Teilstaaten „Föderation Bosnien und Herzegowina“ sowie „Republik Srpska“. Dazu komme mit dem „Bezirk Brcko“ noch ein dritter Teil. Laut bosnischer Verfassung existierten – wie erwähnt - drei konstitutive Völker. Entsprechend gebe es auch noch drei Sprachen – bosnisch, kroatisch und serbisch. „Ganz schön viel für so ein kleines Land“, findet Sabina Ljuca.
Wie strikt die Trennung in ihrer Heimat war – aber wohl auch noch ist, zeigt eine Begebenheit von der die 27-Jährige erzählt. Im Gespräch mit einer anderen bosnischen IPS-Stipendiatin stellte Sabina Ljuca fest, dass die beiden jungen Frauen in der gleichen bosnischen Stadt aufgewachsen sind. In Travnik nämlich, einer kleinen Stadt in Zentralbosnien. Sogar am gleichen Gymnasium waren sie – das Geburtsjahr stimmte auch überein.
Und dennoch haben sie sich nie kennengelernt. Klingt erstaunlich, ist es aber nicht. „Es waren im Grunde zwei Schulen unter einem Dach. Der eine Bereich für die Bosniaken, der andere für die Kroaten“, erzählt Sabina Ljuca. Damit ein Kennenlernen untereinander so schwierig wie möglich sein sollte, habe es unterschiedliche Zeiten für den Schulbeginn, die Pausen und auch das Ende des Schultages gegeben. „Ich hoffe, dass es solche Sachen in naher Zukunft nicht mehr gibt“, sagt sie.
Was das noch aus dem Krieg herrührende Misstrauen zwischen Bosniaken, bosnischen Serben und bosnischen Kroaten angeht, so bleibt Sabina Ljuca die Hoffnung auf die junge Generation, „die mit den alten Querelen nichts mehr zu tun haben will, sich aber noch nicht traut, gegen die Älteren aufzubegehren“. Dem entgegen steht das Problem des Brain Drain. Vor allem nach Deutschland. „Es gibt hier einen hohen Bedarf an Fachkräften im Gesundheitswesen und an Ingenieuren“, sagt Sabina Ljuca, die absolut akzentfreies Deutsch spricht und wohl kaum Schwierigkeiten haben dürfte, in Deutschland ein Auskommen zu finden.
Nach beendeter zweijähriger Tätigkeit als Rechtsberaterin der zahnärztlichen Fakultät der Universität Sarajevo sieht sie sich jetzt an dem Punkt, über ihre eigene Zukunft nachzudenken – darüber, „was ich wirklich will“. Die 27-Jährige weiß: „Ich hätte auch Chancen, in Deutschland zu leben.“ Und dennoch will sie es in Bosnien versuchen. „Ich liebe mein Heimatland und ich will nicht, dass es dort so weitergeht wie in den letzten 15 oder 20 Jahren.“ (hau/01.06.2015)