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Die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland die 1999 revidierte Europäische Sozialcharta (RESC), das Turiner Änderungsprotokoll von 1991 sowie das Kollektive Beschwerdeprotokoll ratifizieren sollte, wird von Sachverständigen kontrovers beantwortet. In einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union am Mittwoch, 10. Juni 2015, des Bundestages unter Vorsitz von Gunther Krichbaum (CDU/CSU) sprachen sich zwei Experten dafür und einer dagegen aus.
Der Vorsitzende der Stiftung Marktwirtschaft, Prof. Dr. Michael Eilfort, begründete seine Vorbehalte gegen eine Ratifizierung mit den bereits sehr hohen Sozialstandards in Deutschland. Deutschland verfüge über ein einmalig ausdifferenziertes Sozialsystem und gebe „Rekordsummen“ für Transfers in die Sozialsysteme aus. Es gebe daher keinen Grund, die RESC „auf die Schnelle“ zu ratifizieren, bevor nicht offene Fragen, etwa mögliche Auswirkungen auf das in Deutschland geltende Streikverbot für Beamte, geklärt seien.
Eilfort verwies darauf, dass es viele Staaten in Europa gebe, die die Europäische Sozialcharta (ESC) von 1991 zwar ratifiziert hätten, aber deren Regeln „systematisch und flächendeckend“ missachteten. Als Beispiele nannte er Russland und Aserbaidschan. Außerdem kritisierte Eilfort den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte, der die Einhaltung der in der Europäischen Sozialcharta beziehungsweise in der revidierten Sozialcharta festgelegten Rechte durch die Mitgliedstaaten kontrolliert. Er sei „intransparent“ und „nicht demokratisch legitimiert“, zudem sei er zu über 50 Prozent mit Juristen besetzt.
Dem widersprach Helga Nielebock, Leiterin der Abteilung Recht beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Die 15 Mitglieder des Gremiums würden von den Regierungen berufen, betonte sie, die Juristen im Ausschuss hätten die Aufgabe, Verstöße gegen die Charta festzustellen und Umsetzungslücken anzumahnen. „Das muss sich Deutschland gefallen lassen“, urteilte Nielebock. Sie sprach sich klar für eine Ratifizierung der RESC sowie beider Zusatzprotokolle noch in dieser Legislaturperiode aus, um die Durchsetzung der in der Charta niedergelegten Rechte, etwa die Stärkung des Diskriminierungsverbots und die Verbesserung des Mutterschutzes und des sozialen Schutzes der Mütter, auf nationaler Ebene zu befördern.
„Die Sicherung materieller sozialer Rechte für Arbeitnehmer ist in Zeiten des strukturellen Umbruchs und der Sparpolitik der öffentlichen Haushalte mehr denn je notwendig“, begründete Nielebock die Haltung des DGB. Auch in Deutschland sei die Situation schließlich nicht ganz so positiv, wie von Professor Eilfort behauptet. Vielmehr gebe es auch hier eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich und Probleme mit zunehmender Altersarmut.
Klaus Lörcher, ehemals Justitiar des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), bezeichnete die Europäische Sozialcharta als „das wichtigste soziale Menschenrechtsinstrument auf europäischer Ebene“ und forderte die Bundesregierung ebenfalls auf, die Charta und beide Zusatzprotokolle durch eine Ratifizierung weiter zu stärken. Nachdem bereits 33 Staaten die revidierte Fassung ratifiziert hätten, gehöre Deutschland inzwischen zu den Schlusslichtern, bedauerte Lörcher. Seiner Ansicht nach gibt es keine gravierenden Hinderungsgründe für eine Ratifikation. „Wenn überhaupt, dann sind sie durch eine Anpassung der innerstaatlichen Gesetzgebung zu beheben“, urteilte er.
Die Sorge, dass sich aus der Sozialcharta ein Streikrecht für Beamte ableiten lasse, bezeichnete Lörcher allerdings für begründet. Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte habe das umfassende Streikverbot für Beamte in Deutschland jedoch schon seit Beginn seiner Tätigkeit als nicht vereinbar mit der ESC angesehen. Sie sei daher mit der Ratifizierung bereits Teil des nationalen Rechts geworden, weshalb diese Frage vollkommen unabhängig von der Frage der Ratifizierung der RESC sei.
Anlass der einstündigen Anhörung im Europaausschuss war ein Antrag der Linksfraktion (18/4092), in dem die Abgeordneten die Bundesregierung 50 Jahre nach Inkrafttreten der Europäischen Sozialcharta auffordern, die daraus resultierenden Verpflichtungen einzuhalten und die RESC sowie die Zusatzprotokolle zu ratifizieren. „Der Eindruck ist, dass Deutschland, anders als vor 50 Jahren, heute Bremser bei der Frage der sozialen Rechte ist“, urteilte Andrej Hunko (Die Linke).
Auch Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezeichnete es als „peinlich“, dass Deutschland die revidierte Version der Charta bis heute nicht ratifiziert habe und damit zu einer Minderheit in Europa gehöre. Er äußerte die Erwartung, dass dies noch vor Ende der aktuellen Legislaturperiode nachgeholt werde.
Von Seiten der SPD-Fraktion gab es ebenfalls Unterstützung für diese Forderung. So betonte Angelika Glöckner, „eine Ratifizierung würde uns gut zu Gesicht stehen“. Norbert Spinrath verwies darauf, dass die Bundesrepublik die RESC bereits 2007 unterschrieben habe und es seither „ausreichend Möglichkeiten“ gegeben hätte, deutsche Gesetze entsprechend anzupassen. „Es ist ein fatales Signal, dass wir zum letzten Drittel derer in Europa gehören, die nicht ratifiziert haben“, urteilte Spinrath.
Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) betonte, dass eine Ratifizierung noch in dieser Wahlperiode geplant sei, jedoch müssten die offenen Punkte, die aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland noch bestünden, weiter diskutiert werden. So sei der Diskriminierungsbegriff in der RESC „sehr weit gefasst“. Außerdem müsse geklärt werden, wie man damit umgehe, dass auch Beamte ein Streikrecht bekommen sollen. Das könne man aus dieser Sozialcharta ableiten.
Auf die Europäische Sozialcharta hatten sich 1961 die Mitgliedstaaten des Europarats bei einem Treffen in Turin geeinigt. Sie führt 19 Grundrechte auf, darunter das Recht auf Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit und auf gesetzlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie. Auch der Jugend- und Mutterschutz, das Recht auf erschwinglichen Wohnraum, kostenlose Schulbildung und ein Verbot der Zwangsarbeit sind enthalten. Bis heute haben 43 der 47 Staaten des Europarats die Charta ratifiziert. 1999 trat eine novellierte Fassung in Kraft, in der unter anderem das Recht auf würdiges Altern hinzugefügt wurde. Die Bundesregierung hat die revidierte Fassung 2007 zwar unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert.
Das „Turiner Änderungsprotokoll“ von 1991 stärkt die Rechte des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte. Das Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden aus dem Jahr 1995 soll es nationalen und internationalen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen ermöglichen, Beschwerden über eine nicht zufriedenstellende Anwendung der Charta beim Europäischen Ausschuss für Soziale Rechte vorzubringen. (joh/11.06.2015)