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Nach drei vergeblichen parlamentarischen Anläufen in den vergangenen zehn Jahren hat der Bundestag jetzt ein Präventionsgesetz beschlossen. Für die Vorlage in der vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung (18/4282, 18/5261) stimmten am Donnerstag, 18. Juni 2015, die Koalitionsfraktionen von Union und SPD. Die Oppositionsfraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen lehnten den Entwurf als nicht weitreichend genug ab. Abgelehnt wurden gegen das Votum der Opposition vier Änderungsanträge (18/5263, 18/5264, 18/5265, 18/5266) und ein Entschließungsantrag der Linken (18/5267). Die Opposition hatte zudem weitere eigene Anträge eingebracht, die keine Mehrheit fanden. Ein Antrag der Linken (18/4322) zielte auf die "Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit" ab, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangte in ihrem Antrag "Gerechtigkeit und Teilhabe durch ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz" (18/4327).
Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention soll lebensstilbedingte ,,Volkskrankheiten" wie Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Schwächen oder Adipositas eindämmen und die Menschen zu einer gesunden Lebensweise mit genug Bewegung bringen. Gesundheitsförderung und Prävention sollen auf jedes Lebensalter und in alle Lebensbereiche ausgedehnt werden, in die sogenannten Lebenswelten. Eingebunden sind neben der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung auch die Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung.
Die Leistungen der Krankenkassen zur Prävention und Gesundheitsförderung werden mehr als verdoppelt, von 3,09 Euro auf sieben Euro jährlich für jeden Versicherten ab 2016. Somit könnten die Krankenkassen künftig jährlich mindestens rund 490 Millionen Euro im Jahr für den Zweck investieren. Zusammen mit dem Beitrag der Pflegekassen in Höhe von rund 21 Millionen Euro stehen damit künftig mindestens rund 511 Millionen Euro im Jahr für präventive und gesundheitsfördernde Leistungen bereit.
So sollen gerade kleine und mittelständische Betriebe über ausgeweitete Leistungen der Krankenkassen mehr für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter tun. Dazu soll die betriebliche Gesundheitsförderung stärker mit dem Arbeitsschutz verflochten werden. Wer im Beruf oder in der Familie besonders belastet ist, soll von Verbesserungen profitieren. So sollen etwa Schichtarbeiter oder pflegende Angehörige bestimmte Präventionsangebote leichter in Anspruch nehmen können. Um den Anreiz hierfür zu stärken, soll die Obergrenze des täglichen Krankenkassenzuschusses von 13 Euro auf 16 Euro für Versicherte sowie von 21 Euro auf 25 Euro für chronisch kranke Kleinkinder erhöht werden.
Die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen zu präventiven Gesundheitsuntersuchungen weiterentwickelt werden, wobei individuelle Belastungen und Risikofaktoren, die zu einer Krankheit führen können, genauer überprüft werden. Zur Beratung gehört die Klärung des Impfstatus. Vorgesehen ist, dass bei der Aufnahme von Kindern in eine Kita die Eltern eine ärztliche Beratung zum Impfschutz nachweisen müssen.
Im Rahmen einer nationalen Präventionskonferenz sollen sich die Sozialversicherungsträger unter Beteiligung des Bundes, der Länder, der kommunalen Spitzenverbände und Sozialpartner auf Ziele und ein Vorgehen verständigen. Die private Kranken- und Pflegeversicherung soll die Möglichkeit erhalten, sich an der Beratung zu beteiligen.
In der Gesetzesbegründung heißt es, je früher im Leben mit der Gesundheitsförderung und Prävention begonnen werde, desto eher könnten Risikofaktoren wie mangelnde Bewegung, unausgewogene Ernährung, Übergewicht, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum und chronische Stressbelastungen beeinflusst werden. Besonders wichtig sei es, Familien in ihrer Gesundheitskompetenz zu stärken und ein gesundes Aufwachsen der Kinder zu fördern. Zudem müssten Betriebe eine gesundheitsfördernde Unternehmenskultur entwickeln.
Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss hatten Experten die Vorlage im Grundsatz begrüßt, den Ansatz aber als nicht weitreichend genug bezeichnet. Gesundheitsförderung und Vorbeugung müssten als Querschnittsaufgabe verstanden und in allen Gesellschaftsbereichen gezielt verankert werden, gaben die Sachverständigen zu bedenken. Scharf kritisiert wurden die aus Expertensicht unzureichende Einbindung der privaten Krankenversicherung sowie die herausgehobene Rolle der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Ab 2016 sollen rund 35 Millionen Euro pro Jahr von den Krankenkassen an die Bundeszentrale fließen. Experten äußerten bei der Anhörung Zweifel, ob diese Konstruktion sinnvoll und rechtlich haltbar ist, handele es sich doch nicht um Steuergelder, sondern um Beitragsmittel der Versicherten.
In der Schlussdebatte erinnerten mehrere Redner an den langen Vorlauf der Gesetzgebung und die bisher gescheiterten Versuche, zu einer Regelung zu kommen. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Ingrid Fischbach (CDU), sagte, das Gesetz komme spät, sei aber gelungen und inzwischen auch überfällig.
Erstmals werde es in Deutschland eine abgestimmte Präventionsstrategie geben. Der Lebenswelten-Ansatz sei sinnvoll, denn die Menschen müssten bei der Prävention dort erreicht werden, wo sie leben. Dabei müssten vor allem jene Menschen mit ungünstigen sozialen Voraussetzungen in den Blick genommen werden. Die CDU-Politikerin hob die flexibleren Früherkennungsuntersuchungen für Kinder heraus und den künftig verbesserten Impfschutz.
Auch Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach (SPD) ging auf die Gesundheit der Kinder ein, in die investiert werden müsse, und erinnerte an den Zusammenhang zwischen Übergewicht und Zuckerkrankheit. Die Prävention sei bisher Stückwerk gewesen, nun solle eine nationale Präventionskonferenz die Ziele benennen. Dies ein wichtiger Schritt nach vorne.
Die verpflichtende Impfberatung von Eltern, die ihre Kinder in eine öffentliche Kita oder Schule schicken wollen, hält auch Lauterbach für sinnvoll. Ein Impfzwang wäre seiner Ansicht nach in Deutschland hingegen nicht vermittelbar.
Erich Irlstorfer (CDU/CSU) betonte, Impfung sei die beste Prävention und müsse daher auch auf die vielen Auszubildenden ausgeweitet werden. Der jüngste Masernausbruch in Berlin zeige, wie wichtig ein umfassender Impfschutz sei.
Nach Ansicht der Opposition greift das Gesetz zu kurz. Birgit Wöllert (Die Linke) monierte: "Das Gesetz ist neu, aber nicht auf dem neuesten Stand und daher nicht gut." So bleibe es hinter den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zurück und auch hinter den internationalen politischen Anforderungen. Zu viele Menschen würden überdies von dem Gesetz nicht erreicht, etwa die vielen Flüchtlinge im Land. Verfehlt sei überdies die Finanzierung allein über die gesetzliche Krankenversicherung, obwohl Prävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei.
Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen) sah das ganz ähnlich und erinnerte an die zwei Millionen Kinder im Land mit sozialer Benachteiligung und schlechten Gesundheitschancen. Mit dem Gesetz würden diese Kinder eher zurückgelassen. Im Übrigen seien die Kommunen der Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitsvorsorge, dort liefen die Fäden zusammen. Das werde nur unzureichend berücksichtigt. Das Gesetz sei "ein Flickenteppich verschiedener Lobbyinteressen" geworden.
Dem widersprach Rudolf Henke (CDU/CSU) und warf der Opposition vor, widersprüchlich zu argumentieren. Mit dem Gesetz sei es erstmals gelungen, verschiedene Ansätze konstruktiv miteinander zu verbinden. Zudem werde viel Geld für Prävention zusätzlich bereitgestellt. Henke sprach von einem modernen, der Zukunft zugewandten Gesetz.
Helga Kühn-Mengel (SPD) betonte, der neue Ansatz bestehe darin, auf alte und junge Menschen zuzugehen, in ihre Lebenswelten hineinzugehen, in die Schulen, die Arbeit, die Pflegeheime oder Behindertenwohnstätten. Das Gesetz helfe nicht nur jungen Leuten, sondern auch älteren. (pk/18.06.2015)