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Während Deutschland aus der Kernenergie aussteigt, sehen andere EU-Staaten darin ein wichtiges Element im Kampf gegen den Klimawandel. Die britische Regierung hat deshalb umfangreiche Subventionen für den Bau eines neuen Kernkraftwerks am Standort Hinkley Point bei Bridgwater an der südwestenglischen Küste beschlossen und dafür die Genehmigung der EU-Kommission erhalten. In Anträgen fordern die Fraktionen Die Linke (18/4215) und Bündnis 90/Die Grünen (18/4316) nun die Bundesregierung auf, gegen diese Genehmigung vorzugehen und sich angekündigten Klagen Österreichs und Luxemburgs vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzuschließen. Dazu nahmen am Mittwoch, 17. Juni 2015, in einer öffentlichen Anhörung vor dem Wirtschaftsausschuss unter Vorsitz von Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) sieben Sachverständige Stellung und kamen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen.
Mark Higson, dessen Beratungsfirma für Energiefragen unter anderem für die britische Regierung tätig ist, erläuterte deren Ansatz zur Minimierung der Kohlendioxidemissionen. Neben dem Ausbau erneuerbarer Energien spiele dabei die Kernkraft eine wesentliche Rolle, um die fossile Stromerzeugung weitgehend zu ersetzen. Denn erneuerbare Energien allein können nach Ansicht der Regierung in London die Versorgungssicherheit nicht garantieren.
Da die hohen Anfangsinvestitionen für den politisch gewollten Bau des neuen Kernkraftwerks von den Marktteilnehmern nicht ohne langfristige politische Garantien für die Wirtschaftlichkeit erbracht würden, müsse die Regierung hier intervenieren. Dies habe die EU-Kommission bestätigt und die Beihilfen genehmigt.
Thorsten Müller von der Stiftung Umweltenergierecht zeigte sich skeptisch, ob eine Klage dagegen Erfolg haben könnte. Denn die EU-Kommission habe bei derartigen Entscheidungen einen breiten Ermessensspielraum, der nur begrenzt vom EuGH kontrolliert werden könne. Kritisch bewertete Müller, dass ein garantierter Abnahmepreis für den erzeugten Strom über einen Zeitraum von 35 Jahren als Investitionsbeihilfe gewertet werde.
Gegen den ungewissen Erfolg vor Gericht müsse man aber die politischen Folgen abwägen, gab Müller zu bedenken und wies darauf hin, dass auch die deutschen Subventionen für den Ausbau der erneuerbaren Energien von der EU-Kommission genehmigt worden seien.
Auch Prof. Dr. Christoph Moench, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, wies auf den Ermessensspielraum hin. Nach den europäischen Verträgen sei es allein Sache der Mitgliedstaaten, wie sie ihren Energiemix gestalten. Darüber hinaus sei im nach wie vor gültigen Vertrag der Europäischen Atomgemeinschaft von 1957 die Förderung der Atomenergie sogar ausdrücklich festgeschrieben.
Während Müller bezweifelt hatte, ob die fehlende Bereitschaft der Privatwirtschaft, auf eigenes Risiko ein Kernkraftwerk zu bauen, als Marktversagen zu werten sei, sagte Moench: „Marktversagen heißt, dass etwas am Markt nicht eingekauft werden kann.“ Wegen der politischen Unsicherheit der Kernkraft sei dies der Fall. Kein Unternehmen sei in der Lage, eine solche Investition ohne staatliche Garantien durchzuführen.
Dagegen argumentierte die Berliner Rechtsanwältin Dr. Cornelia Ziehm, man könne schwerlich von Marktversagen sprechen, wenn nach 60 Jahren noch immer kein Kernkraftwerk wirtschaftlich betrieben werden könne. Sie bezweifelte im Übrigen, ob es sich bei der britischen Förderung tatsächlich um eine Investitionsbeihilfe handelt und nicht um eine nach europäischem Recht unzulässige Betriebsbeihilfe.
Neben einer Kreditgarantie über 22 Milliarden Euro garantiere die Regierung einen festen Abnahmepreis einschließlich Inflationsausgleich sowie einen Ausgleich für den Fall einer Veränderung politischer Rahmenbedingungen, die zu einer Drosselung oder Einstellung des Betriebs führten. Dies sei ein „Rundum-Sorglos-Paket“, bei dem kein Investitionsrisiko bleibe. Ziehm bezweifelte, dass dies mit dem europäischen Beihilferecht sowie dem liberalisierten Strom-Binnenmarkt vereinbar ist, weil die Atomenergie damit nicht so wie jede andere am Binnenmarkt teilnehme.
Dagegen wies Dr. Severin Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik darauf hin, dass seit 2009, seit die Energiekompetenz mit dem Vertrag von Lissabon geregelt worden sei, kein Mitgliedsland in die Entscheidung eines anderen eingegriffen habe. Prof. Dr. Franz Jürgen Säcker vom Institut für Energie- und Regulierungsrecht Berlin ergänzte, Großbritannien und Frankreich hätten auch nicht interveniert, als Deutschland mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien den europäischen Strommarkt beeinflusst habe.
Großbritannien nehme eine Stromlücke von 60 Gigawatt durch den Ausstieg aus der fossilen Erzeugung an, wovon gerade einmal fünf Gigawatt durch das neue Kernkraftwerk geschlossen würden. Die Auswirkung auf den Strommarkt auf dem Kontinent sei daher gering und damit die Entscheidung der EU-Kommission nicht zu beanstanden.
Marcel Keiffenheim von der Energiegenossenschaft Greenpeace Energy machte dagegen eine andere Rechnung auf. Demnach würde die Subvention für das neue britische Kernkraftwerk zu einer Minderung des Strompreises in Deutschland um zehn bis 40 Cent pro Megawattstunde führen, bei einem derzeitigen Preis von rund 30 Euro pro Megawattstunde.
Da die länderübergreifenden Stromtrassen in der EU ausgebaut werden sollen, werde sich der Effekt noch vergrößern. Dazu komme, dass es sich bei der Subvention um einen Präzedenzfall handele. Sechs Länder in der EU überlegten derzeit, nach einem ähnlichen Mechanismus vorzugehen. Das würde tendenziell die deutsche Energiewende gefährden. (pst/17.06.2015)