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In der Markthalle im Kreuzberger Wrangelkiez ist es ruhig: Viel haben die Händler, die hier Obst und Gemüse aus ökologischer Produktion und allerlei mediterrane Spezialitäten anbieten, nicht zu tun. Der türkischstämmige Gemüsehändler am Eingang stapelt Melonen, einige amerikanische Touristen flanieren am Käsestand vorbei. Eine ältere Frau kauft Spargel aus dem Brandenburger Umland. Es ist eine bunte Mischung – so wie der Berliner Bezirk selbst.
Da passt es gut, dass Cansel Kiziltepe (SPD) diesen Ort für ein Treffen gewählt hat. In Jeans, weißer Bluse und blauem Blazer steuert sie zügigen Schrittes die Espressobar an und bestellt einen Cappuccino. Quasi um die Ecke ist die 39-Jährige als Tochter eines türkischen Gastarbeiters geboren und zusammen mit ihrem Bruder aufgewachsen. Heute vertritt sie als Abgeordnete den Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, zu dem ihr Heimatkiez gehört, im Bundestag.
Als eine der wenigen Parlamentsneulinge ergatterte die zierliche Frau mit den langen, lockigen Haaren einen Platz im renommierten Finanzausschuss und beackert seither Themen wie die Erbschaftsteuerreform und die Rentenpolitik.
Die studierte Volkswirtin und Gewerkschafterin hat mit dem Einzug ins Parlament 2013 eine Blitzkarriere hingelegt: Erst 2005 trat sie in die SPD ein, arbeitete sieben Jahre als persönliche Referentin für den 2013 verstorbenen SPD-Sozialpolitiker und langjährigen Bundestagsabgeordneten Ottmar Schreiner – ihren politischen Ziehvater: „Bei Ottmar habe ich viel über das politische Geschäft gelernt“, sagt Kiziltepe über den Parteilinken, der als das „soziale Gewissen“ seiner Partei galt. „Aber auch, was es heißt, standhaft und geradlinig zu sein – und für seine Überzeugungen zu kämpfen.“
So überrascht es nicht, dass Kiziltepe auch politisch in die Fußstapfen ihres früheren Chefs tritt. Sie teilte nicht nur schon früh die erbitterte Kritik an der Agenda 2010, sondern setzte sich auch ebenso wie Schreiner für eine Abkehr von der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) beschlossenen, aber innerparteilich stets umstrittenen „Rente mit 67“ ein.
2012 wechselte Kiziltepe in den Stab des Arbeitsdirektors beim Volkswagen-Konzern, wo sie als Referentin zuständig war für Makroanalysen zu Themen wie Fachkräftemangel und Frauenquote. „Das war eine super spannende Arbeit an der Schnittstelle von Unternehmen, Politik und Gewerkschaften“, schwärmt sie.
Lange arbeitete sie nicht in Wolfsburg. Hinter den Kulissen bastelte die Mutter einer heute 15-jährigen Tochter bereits emsig an ihrer eigenen Politikkarriere. Geblieben ist aber Kiziltepes Begeisterung für die Fußballer des VfL. Als der Verein kürzlich DFB-Pokalsieger wurde, twitterte sie begeistert ein Video von der Siegesfeier.
Kiziltepes Chancen auf ein Mandat standen gut. Die SPD wollte da schon mehr Frauen und mehr Migranten in Führungspositionen bringen – auch in den eigenen Gremien. Da kam Kiziltepes Kandidatur wie gerufen: Die Berliner Sozialdemokraten stellten sie auf dem sicheren fünften Platz der Liste auf. Eine Notwendigkeit, denn dass die Newcomerin ausgerechnet dem grünen Urgestein und Kreuzberger Lokalmatador Hans-Christian Ströbele das Direktmandat abjagen würde, galt als unwahrscheinlich.
Noch. Denn dass ihre Zeit kommt, davon ist Kiziltepe überzeugt. „Ich bin ein Kiezkind“, sagt sie mit Nachdruck. „Ich bin in Kreuzberg geboren und aufgewachsen.“ Mit ihren türkischen Wurzeln repräsentiere sie viele Menschen in dem Bezirk, der einen Migrantenanteil von rund 38 Prozent aufweist.
Auch wenn die Zuwanderungsgeschichte ihrer Familie nicht unbedingt der Motor ihres politischen Engagements ist: Kiziltepe will „zeigen, dass trotz Migrationshintergrund der Aufstieg durch Bildung gelingen kann“. Als Kind „bildungsferner Eltern“ habe ihr erst der Besuch einer Ganztagsschule den Zugang zu Büchern, Museen und Theatern eröffnet. „Ich verkörpere das sozialdemokratische Aufstiegsversprechen“, sagte sie einmal über sich. Als Politikerin wolle sie nun etwas „zurückgeben“.
Politisiert haben Kiziltepe vor allem Gerechtigkeitsfragen: „Ich komme aus SO 36“, erklärt sie und meint damit den südöstlichen, traditionell ärmeren Teil Kreuzbergs, der bis zur Umstellung der Postleitzahlen nach der Wiedervereinigung als Zustellbezirk 36 bekannt war. „Punkszene, besetzte Häuser, Erster-Mai-Demos – in Kreuzberg kein politisches Bewusstsein zu entwickeln, das geht nicht. Man fängt zwangsläufig an, darüber nachdenken, warum manche Menschen arm sind, andere reich.“
Wie Verteilungsgerechtigkeit herzustellen ist, diese Frage habe sie schließlich dazu bewogen, Volkswirtschaft zu studieren. Verteilungsgerechtigkeit ist auch ihr politisches Leitmotiv – etwa, wenn sie gegen die steigenden Mietpreise und Gentrifizierung in ihrem Wahlkreis kämpft, sich gegen Altersarmut stark macht oder auf eine höhere Besteuerung von Firmenerben pocht.
Mit vielen ihrer politischen Forderungen steht sie auch der Partei Die Linke sehr nahe. Ihr Traum? „Eine rot-rot-grüne Mehrheit in Deutschland“, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen und lacht ein tiefes, herzliches Lachen. Mit Susanna Karawanskij, die wie sie selbst Mitglied im Finanzausschuss ist, setzen sich die Gemeinsamkeiten sogar privat fort: Wie die Linkspolitikerin erwartet auch die Sozialdemokratin demnächst ein Kind. Klar, dass man sich unter Kolleginnen auch darüber austausche, wie sich Nachwuchs und Mandat vereinbaren lassen, erzählt Kiziltepe.
„Es wäre toll, wenn es im Bundestag die Möglichkeit gäbe, das Kind für ein, zwei, drei Stunden betreuen zu lassen. Dann könnte man in den Ausschuss gehen und es hinterher wieder abholen.“ Noch gibt es aber einen solchen Babysitter-Service, wie ihn immer mehr Unternehmen anbieten, im Parlament nicht. „Unglaublich“, entfährt es Kiziltepe. Die Arbeitnehmervertreterin in ihr will das nicht hinnehmen: „Es gibt eine fraktionsübergreifende Gruppe von Abgeordneten mit Babys. Mal sehen, ob sich etwas initiieren lässt“, überlegt sie.
Und dann muss Kiziltepe weiter. Die Zeit drängt. Jacke und Tasche unter den Arm geklemmt, schlängelt sie sich an den Marktständen vorbei. Ihr Taxi wartet bereits mit laufendem Motor vor dem Eingang. Da ruft plötzlich jemand: „Hallo Cansel, wie geht’s?“ Sie winkt, lacht, bleibt stehen. Zeit für einen kleinen Plausch muss sein. Ein Kiezkind eben. (sas/22.06.2015)