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Die Ostseeregion gehört zu den innovativsten Teilen Europas. Dieses Potenzial gelte es zu nutzen und zu fördern – insbesondere durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens, fordert Franz Thönnes (SPD) im Interview. Angesichts der Folgen des demografischen Wandels wachse nicht nur in Deutschland der Druck auf das Sozial- und Gesundheitssystem. Nach Möglichkeiten der Kooperation zu suchen sei deshalb zwingend, so der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses.
Dies ist auch eines der Ziele der Ostseeparlamentarierkonferenz, zu der ab Sonntag, 30. August 2015, Delegierte nationaler und regionaler Parlamente aus den Ostsee-Anrainerstaaten zusammentreffen. Thönnes leitet die Bundestagsdelegation. Die dreitägige Konferenz findet in diesem Jahr in Rostock statt. Sie ist das parlamentarische Pendant zum Ostseerat, dem Organ der Regierungen. Das Interview im Wortlaut:
Herr Thönnes, die Konferenz steht unter dem Titel „Die Ostseeregion – ein Vorbild für Innovationen im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens“ – inwiefern ist die Region tatsächlich ein Modell für andere? Und welche wegweisenden Innovationen gibt es zum Beispiel aus Deutschland?
Die Ostseeregion ist einer der innovativsten Teile Europas. Angesichts des hohen wissenschaftlichen Niveaus der rund 100 Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie bestehenden Kooperationen lässt sich durchaus von einem Vorbild sprechen. Nur zwei Beispiele: Um den Öresund hat sich in Dänemark und Südschweden das Cluster „Medicon-Valley“ für Lebenswissenschaften mit dem Schwerpunkt in der Krebs- und Allergieforschung entwickelt. Das Ostseenetzwerk „eHealth for Regions“ trägt dazu bei, integrierte Strukturen für eine bessere Patientenversorgung zu schaffen. 14 Partner aus sechs Ländern arbeiten hier zusammen und tauschen ihre Erfahrungen bei der Entwicklung und Nutzung von eHealth-Lösungen aus – etwa in den Bereichen Bildung und Forschung, Patientensicherheit und Serviceoptimierung bei der Terminvergabe. Deutschland kann insbesondere aus der Entwicklung der Telemedizin gute Beispiele einbringen.
Warum die Fokussierung auf dieses Thema?
Die Gesellschaften werden in den nächsten Jahrzehnten altern und schrumpfen. Damit steigt der Bedarf an guter Versorgung im Sozial- und Gesundheitsbereich mit qualifiziertem Personal und hochwertiger Technik. Die Kosten wachsen und sind gleichzeitig von einer geringeren Zahl von Menschen zu tragen. Das wirft viele Fragen auf – etwa, wie auch in Zukunft die Leistungen weiterhin erbracht, finanziert und allen Menschen gleichermaßen zugänglich gemacht werden können. Sich über die Erfahrungen auszutauschen und nach Möglichkeiten zur Kooperation zu suchen, ist zwingend. Die Ostseeparlamentarierkonferenz hat vor zwei Jahren deshalb eine Arbeitsgruppe beauftragt, einen Bericht über die Situation im Sozial-und Gesundheitsbereich in den einzelnen Ländern und Regionen vorzulegen. Dieser soll aufzeigen, wo bereits Ansätze zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bestehen, wo diese vertieft werden könnten – und wo es möglicherweise Hindernisse gibt.
Die Frage grenzüberschreitender Kooperationen hat die Konferenz schon 2014 beschäftigt.
Das ist richtig, damals lag aber erst der Zwischenbericht der Arbeitsgruppe vor. Auf der diesjährigen Konferenz können wir die Endergebnisse diskutieren. Schon jetzt aber ist klar: Der Bedarf für grenzüberschreitende Kooperationen ist groß, weil die Anforderungen an die Gesundheits- und Sozialsysteme steigen. Infolge des demografischen Wandels werden sich somatische und psychosomatische Krankheiten häufen. Auch Zivilisationskrankheiten – wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder einzelne Formen der Diabetes – nehmen zu. Besorgniserregend ist zudem die Entstehung und Verbreitung von neuen und multiresistenten Bakterien. Ich hoffe sehr, dass wir konkrete Empfehlungen verabschieden können – etwa für präventive Strategien, damit es gelingt, Erkrankungen und Sterblichkeit zu reduzieren.
Die neue polnische Präsidentschaft im Ostseerat hat angekündigt, Kultur als treibende Kraft für soziale und ökonomische Entwicklung stärker zu fördern. Was erwarten Sie sich von dieser Schwerpunktsetzung?
Ich freue mich, dass die polnische Präsidentschaft die Kultur zu einem Schwerpunkt gemacht hat – damit kommt sie einer Forderung der Ostseeparlamentarierkonferenz nach, die regionale Zusammenarbeit, die Forschung- und Wissenschaftskooperation in diesem Feld auszubauen und damit die Bedeutung von Kunst und Kultur für die nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hervorzuheben. Das halte ich für einen parlamentarischen Erfolg. Polen wird hoffentlich konkrete Initiativen ergreifen, denn gerade in einem wachsenden Europa und einer zunehmend komplexeren Gesellschaft ist Kultur für die eigene Identität von besonderer Bedeutung.
Die Ostsee gilt als eines der am meisten verschmutzten Meere der Welt. Wie beurteilen Sie die Anstrengungen der Anrainerstaaten, bis 2021 die Maßnahmen des 2007 verabschiedeten Ostsee-Aktionsplans der Helsinki-Kommission zum Schutz der Ostsee umzusetzen?
Es gibt Fortschritte. Im März dieses Jahres hat die HELCOM eine Empfehlung für einen regionalen Aktionsplan zur verstärkten Kooperation der Anrainer im Bereich Müllvermeidung und -entsorgung verabschiedet. Ziel ist, den Umweltstandart der Ostsee bis 2020 zu verbessern. Zudem wurden in Abstimmung mit der Internationalen Schifffahrtsorganisation (IMO) strengere Einleitungsvorschriften für Fahrgastschiffe festgelegt. Diese gelten ab 2019 für neue, ab 2021 für vorhandene Schiffe. Das ist zwar später, als es HELCOM und die Ostseeparlamentarierkonferenz gefordert haben. Doch es gilt den notwendigen Ausbau von Hafenauffangeinrichtungen für Schiffsabfälle zu berücksichtigen.
Gibt es außerdem ein Anliegen, das Sie und die Bundestagsdelegation auf die Tagungsagenda bringen wollen?
Ja, das gibt es. In der Ostsee lagern schätzungsweise rund 300.000 Tonnen alter Kriegsmunition und bis zu 65.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Die Ostseeparlamentarierkonferenz hat sich mit diesem Problem schon in den vergangenen Jahren befasst; bei HELCOM wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Was aber fehlt, ist eine genaue Bestandsanalyse, um überhaupt abschätzen zu können, wo akute Gefährdungspotenziale liegen. Hier braucht es mehr Forschung und mehr Zusammenarbeit.
(sas/26.08.2015)