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Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), fordert ein entschiedenes Vorgehen gegen rechtsextremistische Straftaten. Der Rechtsstaat müsse solche Straftaten mit aller Konsequenz und Härte verfolgen und bestrafen, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium der Wochenzeitung „Das Parlament“ in einem Interview am Montag, 31. August 2015. Dabei handele es sich nicht um ein „alleiniges ostdeutsches Problem“. Das sehe man deutlich, wenn man sich „Befragungen anschaut, wie weit ausländerfeindliches Potenzial in den Köpfen steckt“. Zugleich beklagte die aus Thüringen stammende Sozialdemokratin, viele Ostdeutsche hätten „vor 25 Jahren selbst auf gepackten Koffern gesessen auf der Suche nach Freiheit und einem besseren Leben und jetzt laufen einige dieser Leute diesen braunen Rattenfängern nach und hetzen gegen Flüchtlingsheime“. Das sei „nicht nur entsetzlich, das ist verlogen“, fügte sie hinzu. Das Interview im Wortlaut:
Frau Gleicke, was waren Ihre größten Hoffnungen, als vor 25 Jahren das Ende der DDR und die Einheit anstanden?
Es ging mir um Freiheit, um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit, um ein freies Leben. Dafür sind wir auf die Straße gegangen, um die Staatsmacht zu brechen, als das noch nicht ungefährlich war. Ich bin froh, dass wir heute in einer freiheitlichen Gesellschaft leben.
Und Ihre größten Befürchtungen?
Welche wirtschaftlichen Umbrüche das mit sich bringen würde. Wir hatten zwar auch Betriebe, die Produkte in den Westen verkauften, aber wir wussten natürlich, wie marode die meisten unserer Unternehmen waren und unter welch schwierigen Bedingungen in der DDR-Planwirtschaft gewirtschaftet wurde. Meine größte – und leider ja auch berechtigte – Sorge war, dass es zu einer großen Arbeitslosigkeit kommen würde – eine Sorge, die viele Leute hatten, für sich selbst persönlich, aber auch insgesamt.
Heute hinkt die ostdeutsche Wirtschaftskraft noch immer dem Westen hinterher. Ist das quasi naturgegeben oder wurden da Fehler gemacht?
Die Teilung unseres Landes hat ja lange angedauert, immerhin 40 Jahre. Der Glaube, alle Folgen in 25 Jahren beseitigen zu können, war ein Trugschluss. Ich finde, wir können stolz sein auf das, was wir erreicht haben. Wir sind 1991 bei gut 30 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung gestartet und liegen jetzt bei mehr als 60 Prozent. Das ist eine Verdopplung. Dabei hat natürlich auch die Wirtschaftskraft im Westen zugenommen; es ist also deutlich mehr als die 30 Prozent aufgeholt worden. Aber in den letzten Jahren ist auch eine Stagnation eingetreten. Dass die Wirtschaftskraft im Osten noch um ein Drittel niedriger ist als die westdeutsche, ist natürlich ein Problem. Das liegt aber nicht daran, dass Ossis fauler oder etwa dümmer wären, sondern hat vor allem mit der Kleinteiligkeit der Wirtschaft zu tun. Wir haben im Osten eben keine Konzernzentralen und großen Unternehmen.
Wie lässt sich da gegensteuern?
Wir halten dagegen mit einer intelligenten Förderpolitik. Wir haben Bundesprogramme, die gelten in Ost und West gleichermaßen, aber an einigen Stellen gibt es einen Zuschlag für Ostdeutschland. Denken Sie an das Zentrale Innovationsprogramm für den Mittelstand oder an andere Programme, mit denen wir versuchen, gerade in Ostdeutschland Innovationen zu fördern. Wir fördern aber auch beispielsweise die Ausstattung von Unternehmen mit Wachstumskapital. Wir werden keine Konzernzentrale nach Ostdeutschland locken können, sondern müssen selbst wachsen. Dabei geht es um die drei „I“: um Innovation, um Investitionsförderung und um Internationalisierung.
Nochmal zur Arbeitslosigkeit. Da liegt Sachsen mittlerweile vor Bremen und Nordrhein-Westfalen, Thüringen sogar vor Hamburg.
Ich bin natürlich froh, dass wir Arbeitslosigkeit abgebaut haben. Besonders froh bin ich darüber, dass sich auch bei der Langzeitarbeitslosigkeit etwas tut, wenn auch langsamer. Man muss aber wissen, dass aus Thüringen und den grenznahen Gebieten in Sachsen-Anhalt sehr viele Leute nach Bayern oder Niedersachsen pendeln. Und viele junge Menschen sind abgewandert. Das Arbeitskräftepotenzial in Ostdeutschland ist dadurch leider geringer geworden, was wiederum die Chancen der Daheimgebliebenen erhöht. Aber keine Frage, man merkt natürlich auch den wirtschaftlichen Fortschritt.
Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland werden viel weniger thematisiert als die zwischen Ost und West. Stört Sie das?
Ich sage seit Jahren, dass wir auch die wirtschaftlich schwierigen Regionen in Westdeutschland in den Blick nehmen müssen. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet oder Schleswig-Holstein ist ja nicht von der Hand zu weisen. Aber diese Strukturunterschiede sind im Westen regional stark begrenzt. Man hat dort Boom-Regionen in der Nähe von strukturschwachen Region, während Ostdeutschland ein zusammenhängendes strukturschwaches Gebiet ist. Selbst unsere Leuchttürme wie Dresden vergleichen sich eher mit den besseren der strukturschwachen Regionen im Westen. Das sieht man an der Steuerkraft, bei der Ostdeutschland sogar den armen Regionen im Westen hinterherhinkt.
Wer lebt mehr im geeinten Deutschland – die Ostdeutschen, die sich Neuem anpassen mussten, oder die Westdeutschen, für die sich oft wenig änderte?
In einer Studie, die ich neulich in Auftrag gegeben habe, gibt es eine schöne Zahl: 77 Prozent der Ostdeutschen haben die Wiedervereinigung als persönlichen Gewinn bezeichnet und 62 Prozent der Westdeutschen. Da gleicht sich etwas an. Aber man muss auch auf die Strukturumbrüche im Osten hinweisen: Was da an Emotionen, an Willensstärke, an Flexibilität bei den Ostdeutschen gewesen ist, um das alles zu schultern! Für uns ist ja wirklich kein Stein auf dem anderen geblieben. Dabei haben wir in den vergangenen 25 Jahren viel erreicht und können darauf stolz sein, und den Rest schaffen wir auch noch – aber nur zusammen.
Sie haben die Abwanderung angesprochen. Sehr, sehr viele sind in den Westen gegangen, viele Westler aber auch in den Osten. Hilft das nicht der inneren Einheit?
Natürlich. Da sind junge Leute mit dieser Umbruchserfahrung in den Westen gegangen, die quasi als Botschafter ihrer Heimat wirken und Klischees wie vom „Jammer-Ossi“ abbauen. Umgekehrt gilt das an ostdeutschen Universitäten für viele Studenten aus den alten Ländern. Für die Jüngeren ist die Frage Ost-West immer weniger ein Problem. Mein Sohn hat kürzlich eine junge Frau aus Aschaffenburg geheiratet, die beiden leben in Düsseldorf. Für diese jungen Leute ist Ost-West kein Thema mehr.
Gemessen an der Bevölkerungszahl werden im Osten deutlich mehr rechtsextremistische Straftaten begangen als im Westen. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin bestürzt über jeden Übergriff und verurteile solche Gewalttaten und Aufrufe zu Gewalt entschieden. Der Rechtsstaat muss solche Straftaten mit aller Konsequenz und Härte verfolgen und bestrafen. Wichtig ist für mich die Netzwerkarbeit vor Ort, ich setze mich seit Jahren in Bündnissen gegen Rechtsextremismus ein. Und ich habe mich auch immer gegen Beschönigungsversuche gewehrt. Wenn man sich allerdings Befragungen anschaut, wie weit ausländerfeindliches Potenzial in den Köpfen steckt, sieht man deutlich, dass das kein alleiniges ostdeutsches Problem ist. Was mich traurig macht und mir nicht in den Kopf will: viele Ostdeutsche haben vor 25 Jahren selbst auf gepackten Koffern gesessen auf der Suche nach Freiheit und einem besseren Leben und jetzt laufen einige dieser Leute diesen braunen Rattenfängern nach und hetzen gegen Flüchtlingsheime. Das ist nicht nur entsetzlich, das ist verlogen.
Lässt sich nicht vermitteln, dass das auch ein Standortnachteil ist?
Das will ich hoffen. Ich mache immer wieder darauf aufmerksam, dass das Auswirkungen auf unser Ansehen hat. Auch ich als Deutsche ohne Migrationshintergrund mache doch nicht in einem Ort Urlaub, in dem ich damit rechnen muss, abends in der Kneipe auf Neonazis zu treffen. Hier sind alle gesellschaftlichen Kräfte im Kampf gegen Rechts gefragt, auch die Wirtschaft. Das ist nicht nur ein Gebot der Moral, sondern auch der ökonomischen Vernunft. Wenn Unternehmen, Fachkräfte auch aus dem Ausland haben wollen, dann müssen sie sich auch gegen Neonazis vor Ort engagieren. Ich möchte dabei aber nicht, dass die Diskussion ins rein Ökonomische und in eine Unterscheidung zwischen „nützlich“ und „nicht nützlich“ abgleitet, das wäre furchtbar. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist für mich keine ökonomische Frage, sondern zuallererst eine der christlichen Nächstenliebe.
(sto/31.08.2015)