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Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat das zweite Pflegestärkungsgesetz als "großen Fortschritt" gewertet. In der ersten Beratung über die Gesetzesvorlage (18/5926) aus seinem Haus sagte der Minister am Freitag, 25. September 2015, im Bundestag, nach zehn Jahren Debatte werde ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Damit werde die Pflege individueller und erstmals auch zielgenau auf die Bedürfnisse von Demenzkranken ausgerichtet. Die Opposition begrüßte zwar die Reform im Grundsatz, monierte aber die aus ihrer Sicht unzureichende Finanzierung. Zudem mangele es an gut ausgebildeten und motivierten Pflegefachkräften.
Im vergangenen Jahr hatte das Parlament den ersten Teil der großen Pflegereform mit umfassenden Leistungsverbesserungen gebilligt, die seit Anfang 2015 in Kraft sind. Mit dem zweiten Teil der Reform wird nun vor allem ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Künftig soll die Pflegebedürftigkeit unabhängig davon ermittelt werden, ob Pflegebedürftige körperliche Einschränkungen haben oder unter Demenz leiden. Dazu werden die bisher drei Pflegestufen zu fünf Pflegegraden ausgebaut. Entscheidend ist nunmehr der Grad der Selbstständigkeit im Alltag, der in sechs Kategorien gemessen wird.
Mit bis zu 500.000 neuen Anspruchsberechtigten wird in den nächsten Jahren gerechnet. Nachteile für Alt-Pflegefälle soll es nicht geben. Finanziert wird die Reform durch eine Anhebung des Pflegeversicherungsbeitrags um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent (2,8 Prozent für Kinderlose) zum Jahresbeginn 2017. Verbesserungen sind auch für pflegende Angehörige vorgesehen. Grundlegend überarbeitet werden die Regelungen zur Qualitätssicherung, das betrifft auch den sogenannten Pflege-TÜV.
Gröhe betonte, die Leistungen der Pflegeversicherung setzten künftig schon viel früher an als bisher. So würden Patienten bereits zu Beginn einer Pflegebedürftigkeit unterstützt. Das Ziel sei, Pflege individueller zu gestalten und Pflegebedürftige wie auch Angehörige besser zu beraten. Der reale Pflegebedarf werde künftig besser abgeschätzt. Pflegende Angehörige erhielten Hilfestellung durch zusätzliche Absicherungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung.
Der Minister verwies ferner auf den "umfassenden Bestandsschutz" und die automatische Überleitung bisheriger Pflegefälle in das neue System und betonte: "Niemand wird schlechtergestellt." Für die Pflegekräfte stünden bessere Arbeitsbedingungen in Aussicht, und die Pflegedokumentation werde von Bürokratie entlastet. Mit dem neuen Pflegeberufegesetz werde der Berufszweig modernisiert.
Auch die SPD sieht in der zweiteiligen großen Pflegereform eine bedeutende Verbesserung. Der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach sagte mit Blick auf die zusätzlich bereit gestellten Gelder, es handele sich um die größte Aufstockung der Mittel für eine Sozialversicherung, die es je gegeben habe. Und die Mittel würden gut eingesetzt. Lauterbach sprach von einer neuen Pflegephilosophie.
Bisher sei in der Pflege vor allem die körperliche Bedürftigkeit berücksichtigt worden, Demenzerkrankungen wenig und psychische Erkrankungen kaum. Nun bekämen alle eine gute Pflege. Lauterbach sprach von einem ganzheitlichen statt einem Reparaturansatz. "Wir stärken das, was jemand noch kann, und wir reparieren nicht das, was er nicht kann." Die gesamte Pflegereform sei zudem paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert.
Die Opposition hielt der Regierung vor, viel zu spät und nicht entschlossen genug auf die immer größer werdenden Probleme in der Pflege zu reagieren. Pia Zimmermann (Die Linke) sagte, die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sei längst überfällig. Anstatt jedoch die Pflegeversicherung finanziell auf eine solide Basis zu stellen, würden Milliarden in einen Pflegevorsorgefonds gesteckt.
Zur Realität gehöre, dass pflegende Angehörige und professionelle Pfleger finanziell wie körperlich am Limit seien. Die in der Pflege gezahlten Löhne seien alles andere als eine Ankerkennung der Leistung. Entsprechend groß sei der Frust bei den Pflegekräften. Die Teilleistungsversicherung sei im Übrigen sei ungerecht und führe letztlich dazu, dass Pflegefälle im Wesentlichen von Angehörigen betreut werden müssten. Zimmermann forderte einen Systemwechsel in der Finanzierung.
Auch die Grünen-Abgeordnete Elisabeth Scharfenberg forderte eine Pflegebürgerversicherung und damit eine langfristige finanzielle Basis. Die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs sei das Herzstück aller Pflegereformen und die größte Veränderung in der Pflegeversicherung seit ihrer Gründung vor 20 Jahren. Sie hielt der Bundesregierung aber vor, diese für so viele Menschen wichtige Reform ohne ausreichende öffentliche Auseinandersetzung zu beschließen und sprach von einem "Husarenritt".
In Höchstgeschwindigkeit werde gerade ein Pflegegesetz nach dem anderen durch das Parlament gejagt. Quantität bedeute aber eben nicht automatisch Qualität. So stelle sich die Frage, woher das benötigte gute Pflegepersonal eigentlich kommen solle. Die Hilfen für Angehörige reichten nicht aus, die geplante generalistische Pflegeausbildung sei verfehlt. Hier werde Fachwissen verloren gehen, das werte den Beruf nicht auf, sondern ab.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) entgegnete, die Reform werde wohlüberlegt und zielgerichtet auf den Weg gebracht. Die zur Finanzierung herangezogenen Beitragssatzerhöhungen seien überdies die unumstrittensten, die es in der Sozialversicherung je gegeben habe und würden von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung mit getragen.
Die Opposition moniere einen Husarenritt, in Wahrheit sei sie bloß skeptisch gewesen und habe nicht geglaubt, dass diese Reform kommt. Nun werde dieser "großartige Schritt" gemacht, und die Opposition kritisiere Kleinigkeiten. Nüßlein versprach, die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal würden verbessert. (pk/25.09.2015)