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Gradlinig verlief der Prozess nicht. Deutschland wuchs zusammen, aber es kam auch zu Brüchen, Verwerfungen, Fehlentwicklungen. Der Bundestag zog am Freitag, 2. Oktober 2015, eine Bilanz der Einheit nach 25 Jahren. „Der Prozess der deutschen Einheit ist zum Teil sehr widersprüchlich verlaufen“, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium und Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Iris Gleicke (SPD).
Man dürfe nicht darüber schweigen, „dass nicht wenige von denen, die vor 25 Jahren hoffnungsvoll und mit großen Träumen in die neue Gesellschaft gestartet sind, bittere und zum Teil demütigende Niederlagen erlebt haben“. Es sei längst nicht so schnell alles besser geworden wie die meisten Ostdeutschen sich das erhofft hätten. Aber es dürfe auch keine Beschönigung der DDR-Diktatur geben. Insgesamt falle die Bilanz jedoch positiv aus: „Der Aufbau Ost ist gelungen. Das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse ist in vielen Bereichen erreicht“, erklärte Gleicke.
Allerdings hinke der Osten auch noch hinterher, zum Beispiel bei Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen. Die Arbeitslosigkeit sei höher und die Löhne seien deutlich niedriger: „Der Aufholprozess kommt schon seit Jahren nur sehr langsam voran“, so die Staatssekretärin, die einen der Gründe in der Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft sah: „Uns fehlen im Osten die großen Konzerne.“ Ein Ende der Ostförderung dürfe es nicht geben: „Das würde bedeuten, einen Motor abzuwürgen, den man gerade mit viel Aufwand ans Laufen gebracht hat.“
Der Vorsitzende der Fraktion die Linke, Dr. Gregor Gysi, nannte das wichtigste Ergebnis der deutschen Einheit von 1990, „dass durch diese Einheit ein Krieg zwischen den beiden deutschen Staaten ausgeschlossen wurde“. Die Einheit sei auch dank des Mutes vieler Ostdeutscher zustande gekommen. "Die Vorteile für den Osten sind offenkundig. Es ist ein Gewinn an Freiheit und Demokratie. Nie wieder wird es eine Mauer in Deutschland geben.“
Aber trotz wirtschaftlicher Erfolge und Bereicherung für viele habe es eine andere Seite gegeben: „Ein 50-Jähriger, der bis zur Rente arbeitslos blieb, hat die Bereicherung kaum empfunden.“ Gysi erinnert, nach Abschluss der Privatisierung der DDR-Wirtschaft 1994 habe es nur noch 1,5 von einst 4,1 Millionen Arbeitsplätzen in den Treuhand-Unternehmen gegeben.
Gysi nutzte die Rede zu einigen persönlichen Abschiedsworten angesichts seines bevorstehenden Rückzugs vom Amt des Fraktionsvorsitzenden. Er habe die anderen Abgeordneten nie als Kolleginnen und Kollegen begrüßt, was mit den Diskriminierungen und Verletzungen zusammenhänge, die er auch im Immunitätsausschuss erlebt habe.
„Inzwischen werde ich auch mit Respekt behandelt“, stellte er fest und sagte, er müsse sich einen Ruck geben und gebrauchte daraufhin die Anrede „Liebe Kolleginnen und Kollegen“. Axel Schäfer (SPD) würdigte Gysi und dankte „für Ihre historische Leistung“.
Mark Hauptmann (CDU/CSU) warf Gysi vor, als „Hobbypsychologe“ die Geschichte verklären und die Westbindung Deutschlands infrage stellen zu wollen. „Es waren die Adenauers, die Brandts und die Kohls, die die Einheit herbeigewirkt haben, und nicht die Lafontaines, die Honeckers und die Gysis in dieser Republik.“
Ostdeutschland habe enorm aufgeholt. „Das bestreitet niemand, nicht einmal Herr Gysi“, sagte Hauptmann, der dazu aufrief, bei allen wirtschaftlichen Erfolgen die Geschichte nicht zu vergessen und auch angesichts des silbernen Jubiläums der Einheit keinen Schlussstrich unter die SED-Diktatur zu ziehen. Die Aufarbeitung müsse weitergehen, und es sei eine „Schande“, dass Die Linke diese 25 Jahre nicht zur Aufarbeitung genutzt habe.
Der wirtschaftliche Umbruch und die Veränderungen im Leben hätten den Ostdeutschen viel abverlangt. „Und diese Leistung gilt es heute zu würdigen, sagte Stephan Kühn (Bündnis 90/Die Grünen).
Der wirtschaftliche Aufholprozess sei vorangekommen, habe aber an Dynamik verloren, stellte er fest. Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht liefere Zahlen, „aber keine neue Ideen“. Es gelinge der Bundesregierung nicht, neue Impulse zu setzen.
In dem von der Bundesregierung als Unterrichtung vorgelegten und vom Bundestag an die Ausschüsse überwiesenen Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2015 (18/6100) schreibt die Bundesregierung ein Vierteljahrhundert nach der Einheit von einem beachtlichen Aufholwachstum in den neuen Ländern. Der Aufbau Ost sei „insgesamt gelungen“.
Allerdings wird auch eingeräumt, dass der Abstand in der durchschnittlichen Wirtschaftskraft zwischen den neuen und den alten Ländern auch heute noch groß sei. Die Arbeitslosenquote sei mit 9,8 Prozent noch überdurchschnittlich hoch, auch wenn sich der Unterschied zur Situation in den alten Ländern verringert habe. Als eine „dynamische Wachstumsbranche“ in Ostdeutschland wird der Tourismus mit mehr als 355.000 Erwerbstätigen bezeichnet. Besonders erfolgreich hätten sich die Reiseziele in Mecklenburg-Vorpommern etablieren können.
"Unser Ziel ist und bleibt die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet", heißt es in einem gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD (18/6188), den der Bundestag mit deren Mehrheit annahm. Darin fordern die Fraktionen die Bundesregierung auf, "eine in dieser Legislaturperiode anstehende Initiative des Deutschen Bundestages für ein Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft an einem zentralen Ort in Berlin vorzubereiten und zu begleiten".
Zu den weiteren Forderungen gehört, dass die Bundesregierung vor Auslaufen des Solidarpakts 2019 ein Konzept zur Ausgestaltung eines gesamtdeutschen Systems der regionalen Wirtschaftsförderung ab 2020 erarbeiten und die notwendigen Förderprogramme zur Unterstützung der Wirtschafts- und Forschungslandschaft mindestens in demselben Umfang fortschreiben soll.
In einem an die Ausschüsse überwiesenen Entschließungsantrag (18/6195) kritisiert die Linksfraktion, dass der Jahresbericht keine Verbesserungsvorschläge zum Erreichen der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen deutschen Einheit enthalte. Außerdem komme im Rückblick die 40 Jahre währende deutsche Teilung lediglich aus der Perspektive der westdeutschen Entwicklung vor.
Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung auf, schnellstmöglich einen Aktionsplan zum gesellschaftspolitischen Zusammenwachsen vorzulegen sowie ein Programm zur Angleichung des Lohn- und Gehaltsniveaus im Osten auf den Weg zu bringen. (hle/02.10.2015)