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Drohende Strafzahlungen in Milliardenhöhe, abstürzende Börsenkurse und ein immenser Imageschaden: Das Eingeständnis von Deutschlands größtem Automobilhersteller Volkswagen, Abgaswerte von Dieselautos in den Vereinigten Staaten für Fahrzeugtests manipuliert zu haben, alarmierte Konzern, Kunden und nicht zuletzt die Politik. In der Fragestunde des Bundestages (18/6136) am Mittwoch, 30. September 2015, will Stephan Kühn unter anderem erfahren, seit wann das Kraftfahrt-Bundesamt von der Rückrufaktion des VW-Konzerns in den USA wusste. Dass man dort davon ebenso wenig Kenntnis hatte wie im Bundesverkehrsministerium, hält der verkehrspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen für unwahrscheinlich. „Hätte man sich nicht jahrelang mit der Automobilindustrie gemein gemacht, hätte man diesen Hinweisen früher nachgehen müssen“, kritisiert Kühn. Im Interview fordert der Dresdner Abgeordnete realistischere Labortests und systematische Kontrollen. Das Interview im Wortlaut:
Herr Kühn, was ärgert Sie am meisten – dass ein Konzern Verbraucher täuscht, sich gegenüber anderen Firmen Wettbewerbsvorteile verschafft oder die Umwelt schädigt?
Es ist schockierend, dass VW mithilfe einer Software den Abgasausstoß künstlich reduziert und so die Verbraucher getäuscht hat. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Denn dass die Abgaswerte, die in Labortests gemessen werden, nicht mit den Realemissionen auf der Straße übereinstimmen, ist seit Jahren hinlänglich bekannt. Ob Deutsche Umwelthilfe, ADAC oder ICCT…
…das US-amerikanische Forschungsinstitut International Council on Clean Transportation …
Ja, alle haben Fahrzeuge im Verkehr getestet und geprüft, ob die Abgaswerte stimmen. Sie taten es nicht. Aufgrund des ICCT-Berichts hat die US-Umweltbehörde EPA im vergangenen Jahr angefangen zu ermitteln – spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte auch die Bundesregierung im Sinne der Verbraucher und der Umwelt handeln müssen. In vielen deutschen Städten werden regelmäßig hohe, die Gesundheit der Menschen beeinträchtigende Stickoxidwerte gemessen. Die EU-Grenzwerte werden hier seit Jahren nicht eingehalten.
Sie werfen der Bundesregierung vor, Hinweise ignoriert und viel zu spät gehandelt zu haben. Was hat denn aber Ihre Fraktion getan?
Der VW-Skandal war noch nicht am Horizont aufgetaucht, da haben wir bereits an dem Antrag gearbeitet, der in der letzten Woche in den Bundestag eingebracht wurde. Wir brauchen für die Kohlendioxid-Verbrauchswerte sowie Abgaswerte schnell bessere Prüfverfahren im Labor – vor allem aber systematische Kontrollen auf der Straße. Wie diese bewerkstelligt werden könnten, darüber haben wir bereits im Frühsommer mit Experten von Umwelthilfe, Umweltbundesamt und ICCT diskutiert. Nur hat damals die Öffentlichkeit dieses Thema noch nicht wahrgenommen.
VW plant eine Rückrufaktion zur Umrüstung der rund 2,8 Millionen in Deutschland betroffenen Dieselfahrzeuge. In den USA begann eine ähnliche Aktion bereits im April. Sie wollen nun wissen, seit wann das Kraftfahrt-Bundesamt davon Kenntnis hatte. Wieso?
Das Kraftfahrt-Bundesamt untersteht als zuständige Behörde dem Verkehrsministerium, dessen Chef, Minister Dobrindt, uns jetzt weismachen will, dass er von der ganzen Problematik erst am vergangenen Wochenende erfahren hat. Aber wie glaubhaft ist das? Ich gehe davon aus, dass die transatlantischen Beziehungen so gut sind, dass amerikanische und deutsche Behörden miteinander kooperieren. Dass der größte deutsche Autobauer in den USA eine halbe Million Fahrzeuge zurückruft und in Deutschland davon niemand etwas mitbekommt, kann ich mir nur schwer vorstellen.
Wieso wurde weggeschaut? Ist der Einfluss der Automobilindustrie so stark?
Die Verflechtungen zwischen Automobilindustrie und Politik sind in Deutschland sehr eng. Die Kanzlerin persönlich war es, die 2013 auf Bitten der Autohersteller dafür sorgte, dass die Einführung von strengeren Kohlendioxid-Grenzwerten für Pkw, die ursprünglich für 2020 geplant waren, um ein Jahr verschoben wurde. Das ist nur ein Beispiel, wie die Bundesregierung dazu beigetragen hat, EU-Grenzwerte und Umweltstandards aufzuweichen.
Nun aber machen Regierung und Behörden Druck: Verkehrsminister Dobrindt hat eine Untersuchungskommission eingesetzt; das Kraftfahrt-Bundesamt fordert von VW einen verbindlichen Zeitplan, bis wann die Dieselfahrzeuge die Abgasvorschriften ohne Manipulation erfüllen. Reicht das?
Nein, natürlich nicht. Der Minister hätte schon vor einem Jahr, als der ICCT-Bericht vorlag, eine Untersuchungskommission einberufen und das Kraftfahrtbundesamt mit entsprechenden Nachkontrollen beauftragen müssen. Der Bericht belegte schließlich eine mehrfache Überschreitung der Grenzwerte. Diese Abweichungen haben nichts mit den üblichen Unterschieden von Labor-Bedingungen und realem Fahrverhalten zu tun. Der überwiegende Teil der beobachteten Überschreitungen konnte weder „extremen“ noch „untypischen“ Fahrsituationen zugeordnet werden. Hätte man sich nicht gemein gemacht mit der Automobilindustrie, hätte man diesen Hinweisen früher nachgehen müssen.
Muss VW von deutscher Seite keine Strafe fürchten? In USA drohen dem Unternehmen Strafzahlungen an die Umweltbehörde EPA.
Das ist tatsächlich die Frage. Deshalb will ich von der Bundesregierung auch wissen, ob die EU-Richtlinie zur Euro-5- und Euro-6-Abgasnorm, die durchaus Sanktionsmöglichkeiten vorsieht, überhaupt in deutsches Recht umgesetzt wurde. Leider deutet einiges darauf hin, dass dies nicht passiert ist. Damit könnten die Verstöße von VW nicht sanktioniert werden. (sas/19.09.2015)