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Sie sind Dolmetscher, Fahrer oder Reinigungskraft: Etliche Afghanen arbeiten für die deutsche Entwicklungshilfe und riskieren so ihr Leben. Denn bei den radikalislamischen Taliban gelten sie als Verräter oder Kollaborateure und werden oftmals mit dem Tod bedroht. Nach der kurzzeitigen Eroberung der Provinzhauptstadt Kundus durch Taliban-Kämpfer beschäftigt die Sicherheit afghanischer Ortskräfte erneut den Bundestag. In der Fragestunde (18/6300) am Mittwoch, 14. Oktober 2015, will Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, unter anderem wissen, was die Bundesregierung unternimmt, um die einheimischen Mitarbeiter von deutschen Entwicklungsorganisationen in Afghanistan zu schützen. Das bisher übliche Verfahren, über das bedrohte Mitarbeiter Asyl beantragen können, sei zu „bürokratisch und langwierig“, kritisiert die Abgeordnete aus Tübingen im Interview:
Frau Hänsel, vor knapp zwei Wochen besetzten die Taliban vorübergehend Kundus, seitdem ist die Stadt umkämpft. Deutsche Entwicklungshelfer wurden frühzeitig evakuiert. Machen Sie sich Sorgen um die afghanischen Mitarbeiter?
Natürlich mache ich mir Sorgen. Deutsche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) waren ja schon seit Längerem nicht mehr in Kundus. So hat sich die Arbeit zuletzt ausschließlich auf lokale Fachkräfte gestützt: Nach unseren Informationen waren zu Beginn der Kampfhandlungen noch 114 afghanische GIZ-Mitarbeiter in der Region. Für diese Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hat die Bundesregierung beziehungsweise die GIZ als staatliche Durchführungsorganisation eine Verantwortung.
Medienberichte zufolge ist die GIZ dieser Verantwortung in der Vergangenheit nicht gerecht geworden: Sie soll ihre Ortskräfte zum Beispiel nicht informiert haben, dass die Möglichkeit besteht, einen Ausreiseantrag zu stellen.
Ja, das ist auch Hintergrund meiner Frage. Einheimische Mitarbeiter – die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Einsatz sind – haben die Möglichkeit, für sich und ihre Familien über das sogenannte Ortskräfteverfahren Asyl in Deutschland zu beantragen. Das bedeutet, dass sie vor Ort einen Antrag stellen und ihre individuelle Bedrohungslage nachweisen müssen. Entschieden wird per Einzelfallprüfung. Das ist aber meist ein langwieriger Prozess. Zu langwierig für die aktuelle Situation, in der eine Stadt von den Taliban förmlich überrannt wurde. Wenn über Hausdurchsuchungen berichtet wird, ist klar, dass die Taliban nach denen suchen, die sie für Kollaborateure halten. Den Ortskräften muss schnell und unbürokratisch geholfen werden.
Sie sprechen das Ortskräfteverfahren an: Entscheidet eigentlich über eine Aufnahme in Deutschland nur das Bundesinnenministerium?
Über die Anträge im Rahmen des Ortskräfteverfahrens entscheiden die Ministerien für Auswärtiges, Inneres und Verteidigung gemeinsam. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist meines Wissens gar nicht direkt beteiligt – was ich allerdings für notwendig halten würde. Immerhin geht es auch um Ortskräfte der GIZ. Deswegen meine Frage an die Bundesregierung: Was tut sie, um diese Mitarbeiter zu schützen? Von Seiten des BMZ erwarte ich jetzt konkrete Angebote. Bislang waren es hauptsächlich ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr, denen in Deutschland Asyl gewährt wurde. Die gleiche Möglichkeit muss auch für gefährdete Mitarbeiter aus dem zivilen Bereich bestehen.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl moniert zudem die Intransparenz des Verfahrens, weil der Kriterienkatalog als Verschlusssache eingestuft wurde. Teilen Sie diese Kritik?
Ja. Ich halte das Verfahren insgesamt für schlecht und zu bürokratisch. Bisher haben rund 1.700 Ortskräfte eine Gefährdung angezeigt, doch nur knapp 500 durften nach Deutschland einreisen. Das ist weniger als ein Drittel. Über zwei Drittel wurden abgelehnt oder müssen auf eine Entscheidung warten. Das ist absolut unverantwortlich. Hier geht es um Menschenleben.
Ist die Ausreise der einzige Weg, die einheimischen Mitarbeiter vor den Taliban zu schützen? Gibt es keine Möglichkeit, sie im Land in Sicherheit zu bringen?
Ich weiß diesbezüglich jedenfalls von keiner Vereinbarung zwischen der deutschen und der afghanischen Regierung zum Schutz der lokalen Mitarbeiter. Das BMZ hat uns bislang nur mitgeteilt, dass von den schon genannten 114 Ortskräften noch niemand zu Schaden gekommen ist. Die meisten, so heißt es, hätten die Stadt verlassen. Das ist für mich keine verlässliche Information. Und von einer guten Vorbereitung auf den Notfall zeugt sie auch nicht. Als Entwicklungshelfer ist man in Afghanistan tagtäglich in Gefahr. Das muss es einen Evakuierungsplan oder ähnliche Vorkehrungen geben, zum Schutz aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – der deutschen wie der afghanischen.
(sas/13.10.2015)