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Denkt man Anton Hofreiters lange Haare, Claudia Roths knallbunte Schals oder das Lippen-Piercing von Agnieszka Brugger, ist es schwer, in Doris Wagner so etwas wie einen Paradiesvogel zu sehen. Tatsächlich wirkt die Grünen-Abgeordnete verglichen mit ihren Fraktionskollegen ziemlich normal mit ihren blonden Locken und dem breiten Lächeln. Dennoch gibt es Situationen, in denen sich die 52-Jährige fühlt wie eine Exotin. Wie kürzlich, als sie auf Einladung des Bundeswehrverbands eine Tagung besuchte: „Ich war die einzige Frau unter 50 Männern, die einzige Oppositionspolitikerin und die einzige, die nicht gedient hat“, erzählt Wagner.
Seit ihrem Einzug in den Bundestag 2013 sitzt die gebürtige Bremerin, die seit 20 Jahren in München lebt und den Wahlkreis München-Nord vertritt, im Verteidigungsausschuss. Damit ist Wagner zwar längst nicht mehr die einzige Frau in dieser Männerdomäne – inzwischen ist gut ein Drittel der 32 Mitglieder weiblich –, doch die Abgeordnete ist sensibilisiert für Gendergerechtigkeit und Gleichberechtigung. Drei Jahre leitete sie das Frauenreferat der bayerischen Grünen, fünf Jahre war sie Sprecherin des Landesarbeitskreises Frauen- und Gleichstellungspolitik, zwei Jahre zudem Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Frauenpolitik.
Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem es heißt „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, hat für Wagners Arbeit eine besondere Bedeutung. So ist es kein Wunder, dass sich die Abgeordnete vor diesem Grundgesetzartikel, den der israelische Künstler Dani Karavan im Rahmen seines Werks „Grundgesetz 49“ in eine fast drei Meter hohe Glasscheibe gravierte, gern fotografieren ließ. Die Scheibe ist eine von 19, die das Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages und die Spreepromenade verbinden.
Auch hier, im Bundestag, wollte die ausgebildete Übersetzerin weiterhin Themen wie Frauenquote, Lohngleichheit oder familienfreundliche Arbeitszeitmodelle beackern – als frauenpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. In der innerfraktionellen Abstimmung war sie jedoch Ulle Schauws unterlegen. Nun ist Wagner Obfrau im Familienausschuss, Sprecherin für Demografiepolitik und kümmert sich im Verteidigungsausschuss vor allem um die Bundeswehr als Arbeitgeber.
Damit beschäftigt sie der Wehrbericht, aber insbesondere die „Attraktivitätsagenda“, mit der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die deutschen Streitkräfte familienfreundlicher und „zu einem der attraktivsten Arbeitgeber Deutschlands“ machen will. Diesen Prozess kritisch zu begleiten, sei eine „hochspannende und herausfordernde“ Aufgabe, findet sie. Viel zu tun gibt es bei den Streitkräften allemal: „Verglichen mit Unternehmen in der Wirtschaft hinkt die Bundeswehr ziemlich hinterher.“
Dass es ihr so viel Spaß machen könnte, hat Wagner nicht erwartet: „Als mich Omid Nouripour gefragt hat, ob ich mir vorstellen könne, seinen Sitz im Verteidigungsausschuss zu übernehmen, habe ich zuerst gedacht, der spinnt“, sagt Wagner kopfschüttelnd. Bei den bayerischen Grünen war sie zwar drei Jahre lang Sprecherin des Arbeitskreises Frieden/Europa/Eine Welt. Außerdem leitete sie vier Jahre das Münchner Büro von Barbara Lochbihler, der früheren Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, nachdem diese 2009 Abgeordnete des Europäischen Parlaments geworden war. „Doch für die Details der Bundeswehr und ihrer Reform war ich keine Expertin“, gibt sie offen zu.
Bei all den Abkürzungen habe sie anfangs manchmal gar nicht verstanden, worüber genau diskutiert wurde. „Ich musste mich an die Sprache im Ausschuss erst einmal gewöhnen“, sagt Wagner über ihren Start als Verteidigungspolitikerin. Für eine, die sich selbst als „Kontroll-Freak“ beschreibt, wohl kaum eine komfortable Lage. Also steht sie an Ausschusstagen um fünf auf, schlägt Abkürzungen nach und lernt sie auswendig. Dazu die Geografie und Geschichte von Krisengebieten und Konflikten – um Boden wieder unter die Füße zu bekommen. Eine Woche lang schlüpft sie sogar in eine Bundeswehruniform und absolviert ein Praktikum in einer Kaserne, um den Alltag der Soldaten und Soldatinnen besser kennenzulernen. „Ich hatte eine Lernkurve, die ging so“, sagt Wagner stolz und lässt ihre Hand steil nach oben fahren.
Dass die Münchnerin keine ist, die neue Aufgaben scheut, davon zeugt auch ihr ungewöhnlicher Berufsweg: Als Fremdsprachenkorrespondentin arbeitet sie mehrere Jahre in England und Italien, bevor sie eine Ausbildung zur Textilbetriebswirtin absolviert und danach für Modehäuser wie Mondi oder Rena Lange tätig ist. Sie habe sich so einen Jugendtraum erfüllt, erzählt Wagner, denn nach dem Abitur sei es eigentlich ihr Wunsch gewesen, Modedesign zu studieren.
Doch damals scheitert sie an der Aufnahmeprüfung. Kurzentschlossen setzt sie also auf Plan B, die Dolmetscherschule, und findet über diese Schiene schließlich doch den Weg in die Textilbranche. Zehn Jahre später aber muss sie feststellen: „Ich hatte das Gefühl, nicht mehr richtig dorthin zu passen. Nur über die neuesten Modetrends zu sprechen, langweilte mich.“ Ihre Konsequenz: Sie wird Mitglied in einem Frauenkarrierenetzwerk und macht sich schließlich als Veranstaltungsagentin selbstständig.
Zu dieser Zeit beginnt auch ihr politisches Engagement. „Ich habe mich beim Zeitunglesen immer öfter geärgert. Meinen Mann hat das schon genervt“, erzählt sie. Weil sie es aber auch nicht leiden könne, wenn Menschen nur „nörgeln“, ohne selbst „etwas zu geben“, sei sie schließlich aktiv geworden.
Aufgewachsen ist sie in einem sozialdemokratisch geprägten Arbeiterhaushalt: „Bei meinem Onkel standen Autogramme von Willy Brandt und Helmut Schmidt auf der Anrichte“, erinnert sich Wagner. „ Ich kenne keinen in meiner Familie, der nicht die SPD gewählt hat.“ Sie selbst sympathisiert vor allem aufgrund der Frauen- und Gleichstellungspolitik mit den Grünen. 2001 wird sie Mitglied.
Neun Jahre später, 2010, steht Wagner beim Grünen-Parteitag in Freiburg auf dem Podium und kandidiert als frauenpolitische Sprecherin und Beisitzerin im Bundesvorstand. Ihr werden nur geringe Außenseiterchancen gegen die amtierende Sprecherin Astrid Rothe-Beinlich eingeräumt. Dennoch wirft Wagner mutig ihren Hut in den Ring: „Ich habe einen Traum“, ruft sie den Parteitagsdelegierten zu. „Diese Position ist mein Traum, da möchte ich hin.“
Geklappt hat das damals zwar nicht. Aber der erste Schritt in Richtung Bundesbühne war gemacht. „Es war das erste Mal, dass ich mich so in den Wind gestellt habe. Meine Chancen, gewählt zu werden, waren gering“, sagt Wagner. „Aber mir ging es vor allem darum, meinen Anspruch zu manifestieren.“ Bei der Bundestagswahl 2013 stellt sie ihr Landesverband auf Platz neun der Liste auf, und Wagner kann ins Parlament einziehen. Der Wind hat sie getragen – wenn auch in eine andere Richtung. Eine Erfahrung, die sie künftig wahrscheinlich noch häufiger machen wird, denn die wassersportbegeisterte Abgeordnete träumt davon, Kitesurfen zu lernen. Das wäre nun auch für ihre Fraktion ein eher ungewöhnliches Hobby, geradezu exotisch. (sas/09.11.2015)