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Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag am Freitag, 13. November 2015, das zweite Pflegestärkungsgesetz der Bundesregierung (18/5926; 18/6182) auf Empfehlung des Gesundheitsausschusses (18/6688) verabschiedet. Nach Ansicht der Regierung wird mit der Reform ein wichtiger Schritt nach vorne getan. Auch die Opposition sprach in der Schlussdebatte von Fortschritten, sieht aber nach wie vor erhebliche Defizite. Problematisch aus Sicht von Linker und Grünen sind vor allem der Personalmangel in der Pflege, aber auch die langfristige Finanzierung sowie ungleiche Mittelverteilungen zwischen den Patientengruppen.
Die Fraktion Die Linke votierte daher gegen die Vorlage, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthielt sich. Das Gesetz tritt Anfang 2016 in Kraft, die wesentlichen Neuregelungen werden aber erst mit Jahresbeginn 2017 wirksam. Im vergangenen Jahr hatte der Bundestag den ersten Teil der Pflegereform mit umfassenden Leistungsverbesserungen gebilligt.
Anträge der Fraktion Die Linke (18/5110) zur Einführung einer solidarischen Bürgerpflegeversicherung sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (18/6066) für zukunftsfeste Rahmenbedingungen in der Pflege fanden keine Mehrheit.
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs steht der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, mit dem festgelegt wird, wer bei bestimmten Einschränkungen welche Leistungen in Anspruch nehmen kann. Künftig soll die Pflegebedürftigkeit genauer ermittelt und behandelt werden können, unabhängig davon, ob Pflegebedürftige körperliche Einschränkungen haben oder unter Demenz leiden. Dazu werden die bisher drei Pflegestufen zu fünf Pflegegraden ausgebaut. Entscheidend ist der Grad der Selbstständigkeit.
Mit bis zu 500.000 neuen Anspruchsberechtigten wird in den nächsten Jahren gerechnet, Nachteile für Alt-Pflegefälle soll es nicht geben. Finanziert wird die Reform durch eine Anhebung des Pflegeversicherungsbeitrags um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent (2,8 Prozent für Kinderlose) zum Jahresbeginn 2017. Dann sollen insgesamt fünf Milliarden Euro zusätzlich für die Pflege bereit stehen. Die Beiträge sollen sodann bis 2022 stabil bleiben.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) erinnerte in der Schlussdebatte an den zehn Jahre langen Vorlauf der Gesetzgebung und sprach von einer großen Reform, die den rund 2,7 Millionen Pflegebedürftigen, den Pflegekräften und pflegenden Angehörigen zugutekomme. Die rund 1,6 Millionen Demenzfälle erhielten künftig einen gleichberechtigen Zugang zu Leistungen der Pflege. Dies sei ein Meilenstein für eine bessere Versorgung, sagte der Minister, der darauf hinwies, dass in 25 Jahren mit 2,6 Millionen dementen Menschen in Deutschland zu rechnen sei.
Zugleich werde niemand, der schon Pflegeleistungen erhalte, schlechter gestellt. Gröhe betonte, das Prinzip Reha vor Pflege werde gestärkt, denn auch im hohen Alter könne eine erfolgreiche Rehabilitation mehr Teilhabe bedeuten. Auch die pflegenden Angehörigen würden mit dem Gesetz in der Sozialversicherung besser abgesichert. Gröhe räumte ein, dass mehr Pflegekräfte benötigt werden und verwies auf das Personalbemessungsverfahren, das in den kommenden Jahren entwickelt und erprobt werden solle.
Der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach nannte das Gesetz einen "Quantensprung" in der Pflegeversicherung. Die neue Personalbemessung werde in den nächsten fünf Jahren die Pflegeheime erreichen. Wie hoch der Personalschlüssel genau sein müsse, könne aber erst überprüft werden, wenn die neuen Pflegegrade 2017 eingeführt würden.
Auch Hilde Mattheis (SPD) sagte, bis 2020 werde die Entwicklung und Erprobung der Personalbemessung abgeschlossen. Ein Schnellschuss an dieser Stelle wäre unangebracht. Die jetzt verabschiedete Reform sei im Übrigen nicht das Ende der Gesetzgebung in diesem Bereich, fügte sie hinzu und nannte als nächsten "Baustein" das Pflegeberufegesetz sowie ein drittes Pflegestärkungsgesetz (PSG III), das sich schwerpunktmäßig mit der Pflegeinfrastruktur in den Kommunen befassen werde. Mattheis stellte zugleich klar, dass die SPD die Pflegeversicherung als Bürgerversicherung anstrebe, "und zwar so schnell wie möglich".
Heftige Kritik an Detailregelungen des Gesetzes kam von Linker und Grünen. Pia Zimmermann (Die Linke) sagte, ihre Fraktion habe es sich nicht leicht gemacht, das Gesetz abzulehnen, es habe aber zwei Gesichter und beinhalte sowohl Verbesserungen als auch Verschlechterungen. Sie rügte konkret die aus ihrer Sicht ungerechte Verteilung von Pflegeleistungen, die dazu führen könne, dass künftig ein höherer Eigenanteil für die stationäre Pflege gezahlt werden müsse, was letztlich die Einschränkung der Wahlfreiheit mit sich bringe. Sie warnte, Menschen mit Pflegebedarf würden so in die Armut getrieben.
In einer persönlichen Erklärung meldete Heike Baehrens (SPD) ähnliche Bedenken an. Das neue System sei günstig für Fälle mit hohem Pflegebedarf, führe aber zu Mehrbelastungen von Menschen mit niedrigem Pflegegrad. Das hatten auch Experten in der Anhörung zu dem Gesetz bemängelt.
Elisabeth Scharfenberg (Bündnis 90/Die Grünen) begrüßte, dass nach jahrelangen Debatten nun tatsächlich ein neuer Pflegebegriff eingeführt werde. In die Pflege werde auch viel Geld investiert. Der Gesetzentwurf sei aber "nur auf dem Papier ganz passabel" und werde alsbald Defizite in den Lebenswelten der Betroffenen zeigen. So mangele es an Personal, um die Reform umzusetzen.
Die Erprobung der Personalbemessung komme viel zu spät, das Ergebnis sei unklar. Derweil arbeiteten die Pflegekräfte längst am Limit. Scharfenberg zeigte sich überzeugt, dass der Arbeitsdruck auf die Pfleger bestehen bleibt und eine Abkehr von der Minutenpflege nicht ohne weiteres gelingen wird. Die Finanzierung der Pflege sei zudem langfristig nicht gesichert.
Erwin Rüddel (CDU/CSU) hob dagegen die vielen Verbesserungen hervor und versicherte, das Gesetz werde auch in der Praxis die gewünschte Wirkung zeigen. Mit der Reform werde eine Gerechtigkeitslücke geschlossen, fügte er mit Blick auf die Demenzfälle hinzu. Rüddel mahnte, die zusätzlichen Leistungen müssten nun auch wirklich "am Bett" ankommen, da dürfe es keine Tricksereien geben. So müsse sichergestellt werden, dass dieses neue System von professionellen Anbietern nicht ausgenutzt werde. Das Ziel sei eine gute Betreuung und keine Geschäftemacherei. Auch Erich Irlstorfer (CDU/CSU) betonte: "Pflege ist kein Geschäft wie jedes andere und darf es auch nicht sein."
Mechthild Rawert (SPD) sagte, schon wegen der automatischen Eingliederung der Dementen in das System ab 2017 sei das Gesetz ein Meilenstein. Die Pflege sei damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen, das Geschachere um die Minutenpflege höre auf. Zudem müsse niemand in stationären Einrichtungen noch Angst vor einer finanziellen Höherstufung haben, wenn mehr Pflege beantragt werde. (pk/13.11.2015)