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Das globale humanitäre System muss angesichts der weltweit wachsenden Zahl von Flüchtlingen angepasst und seine Finanzierung sichergestellt werden - zu diesem Schluss kam am Mittwoch, 17. Februar 2016, eine Mehrheit der Sachverständigen bei einem öffentlichen Expertengespräch des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe unter Vorsitz von Michael Brand (CDU/CSU).
Johan Cels vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sprach angesichts von weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht von einem "historischen Moment". Beim humanitären Weltgipfel im Mai in Istanbul müsse es um eine bessere Lastenverteilung innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft gehen - aber auch um langfristige Lösungen für den Umgang mit wachsenden Flüchtlingsbewegungen.
"Es gibt im Augenblick zum Beispiel keine gute Verzahnung von Flüchtlingshilfe und Entwicklungszusammenarbeit", sagte Cels. Er regte zudem an, den UN-Hilfswerken mehr Gelder zur Verfügung zu stellen, die nicht zweckgebunden sind - und sie im Gegenzug zu noch mehr Transparenz und Rechenschaft zu verpflichten.
Robert E. Smith vom Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) des UN-Sekretariats sagte, dass die Probleme nicht nur durch mehr Geld, sondern auch durch besseren Ressourceneinsatz lösbar seien. Als Beispiele nannte er unter anderem mehrjährige Mittelausstattung, die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren, höhere Effizienz bei Hilfsorganisationen und die Einbindung neuer Geber etwa aus der Wirtschaft.
Für Lucio Melandri vom Kinderhilfswerk Unicef steht die Finanzierung des globalen humanitären Systems "am Scheidepunkt": Lange sei strikt unterschieden worden zwischen akuter humanitärer Nothilfe und langfristiger Entwicklungshilfe. "Wir brauchen heute eine Verzahnung beider Bereiche und wir brauchen langfristige Finanzierung", sagte Melandri.
Ralf Südhoff vom UN-Welternährungsprogramm (WFP) bezeichnete das UN-Hilfssystem als "latent überfordert". Auch er forderte eine bessere Integration von Not- und Entwicklungshilfen. Bei einem Großteil der Krisen würde es sich nicht um akut Betroffene einer Naturkatastrophe handeln, sondern um Flüchtlinge, die oftmals auf Jahre oder gar auf Jahrzehnte vertrieben seien. Ein Schlüssel seien etwa "Cash-for-Work"-Programme, bei denen Flüchtlinge in Arbeit gebracht würden, um ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können.
Christoph Wagner (Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission, ECHO) betonte hingegen, dass es sich bei Not- und Entwicklungshilfen um Instrumente mit unterschiedlicher Zielsetzung handle: Entwicklungszusammenarbeit sei auf lang anhaltende Wirkung aus, hinter ihr stehe ein politisches Konzept wie etwa gute Regierungsführung. Die bedarfsorientierte Nothilfe sei hingegen nichtpolitisch, neutral und unparteiisch. "Es ist also nicht ganz einfach, beides zusammenzuführen", sagte Wagner.
Christof Johnen vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) warf die Frage auf, ob eine Abkehr von der "prinzipienbasierten humanitären Hilfe" - also die Abkehr von Neutralität und Unparteilichkeit am Ende nicht noch größere Probleme schaffe. Tatsache sei jedoch auch, dass Akteure der humanitären Hilfe heute in Syrien jene Aufgaben übernommen hätten, die einst Akteure der Entwicklungszusammenarbeit wahrgenommen hätten, sagte Johnen und nannte als Beispiel die Aufrechterhaltung der Wasserversorgung in Aleppo.
Eine Reihe von Sachverständigen betonte, dass die Diskussion beim humanitären Weltgipfel in Istanbul über die Frage der Finanzierung hinausgehen müsse und sich nicht allein auf die Situation in Syrien konzentrieren dürfe. Auch im Südsudan und in Burundi seien Hunderttausende auf der Flucht, nur hätten diese Flüchtlinge Europa nicht erreicht und seien deshalb nicht auf der Agenda, sagte Andrea Hitzemann (Caritas International). "Wir sollten andere schwelende Krisen nicht vergessen."
Mathias Mogge (Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen) machte sich für frühzeitige, also vorbeugende Hilfen stark: "Diese Investitionen sparen am Ende sehr viel Geld, das wir später nicht in humanitäre Hilfe investieren müssen." Auch Dr. Jemilah Mahmood (Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften) forderte mehr Anstrengungen zur Prävention: "Wir müssen besser als bisher die Krisen der Zukunft vorhersehen und uns darauf einstellen."
Mehrere Experten unterstrichen außerdem, dass mit Nothilfen den Ursachen von Konflikten nicht beizukommen sei: "Humanitäre Hilfe kann kein Ersatz für politische Lösungen sein", sagte Sabrina Khan von der Hilfsorganisation Islamic Relief mit Blick auf Syrien.
"Die Angriffe auf Zivilbevölkerung lassen Menschen keine Wahl", sagte Balthasar Staehelin vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Das Augenmerk der internationalen Staatengemeinschaft müsse stärker auf der Einhaltung des humanitären Völkerrechts liegen - auf der Einhaltung des Kriegsrechts genauso wie auf der Akzeptanz der Hilfsorganisationen.
taehelin verwies auf mehrere Kollegen, die in Konfliktgebieten wie in Syrien in Geiselhaft gehalten würden. "Das ist ein Problem." Hilfsorganisationen müssten neutral und unparteiisch bleiben, um überhaupt Zugang zu Hilfsbedürftigen zu haben. Staehelin machte dies am Beispiel Aleppos deutlich: Um die Wasserversorgung aufrechtzuerhalten, müssten die Helfer täglich und über Monate hinweg unter dem Blick von Heckenschützen die Frontlinien überqueren, um mit den verschiedenen Konfliktparteien zu verhandeln. (ahe/18.02.2016)
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