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Konflikte gibt es derzeit wahrlich genug. In der Welt, in Europa, aber auch in einzelnen Staaten wie etwa in Ungarn. Gut, dass es auch Konfliktlöser gibt. Emese Böröcz ist eine von ihnen. Zumindest hat die 26-Jährige aus der ungarischen Hauptstadt Budapest ihr Masterstudium in „Internationale Beziehungen“ auf Konfliktlösung fokussiert. „Das kann man auf sehr verschiedenen Ebenen anwenden“, sagt Emese Böröcz.
Im Personalwesen, zwischen Unternehmen, aber auch zwischen Staaten. Oder auch zwischen Lehrern und der Regierung, zwischen denen aktuell in ihrer Heimat ein Disput herrscht, der das ganze Land in Aufruhr versetzt. In den nächsten Monaten lernt die junge Ungarin aber zunächst etwas über die Streitkultur im Bundestag. Bis Ende Juli nimmt sie am Programm des Internationalen Parlaments-Stipendiums (IPS) teil. Drei Monate davon verbringt sie als Praktikantin im Büro des Bundestagsabgeordneten Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU).
In ihrer Heimat arbeitete Emese Böröcz zuletzt als Leiterin einer kleinen zivilgesellschaftlichen Stiftung. „Wir haben politische Planspiele organisiert und Diskussionsrunden zu wichtigen politischen Themen stattfinden lassen“, erläutert sie. Unter anderem ging es dabei natürlich um die umstrittene Verfassungsreform, die die Regierungspartei Fidesz unter ihrem Vorsitzenden Ministerpräsident Viktor Orbán im Jahr 2010 begonnen hat.
Grundsätzlich, so sagt die 26-Jährige, könne sie es schon nachvollziehen, dass die Regierung ihre Zweidrittelmehrheit genutzt hat, um Änderungen vorzunehmen. Schließlich sei Ungarn das einzige Land, das seit der Wende keine neue Verfassung bekommen hat. Ebenso nachvollziehen kann sie aber auch die Kritik, die vor allem von der EU kam. Das Verfassungsgericht wird geschwächt, die Pressefreiheit eingeschränkt und die Grundrechte Einzelner beschnitten, hieß es.
Der Aufschrei innerhalb des Landes blieb anfangs aus. Aus einem einfachen Grund, wie Emese Böröcz sagt. „Die meisten Ungarn interessieren sich nicht dafür. Sie haben die alte Verfassung nicht gelesen und die neue auch nicht.“ Ziel der Arbeit ihrer Stiftung war es daher unter anderem, aufzuzeigen, „dass die Verfassung wichtig für unser alltägliches Leben ist“.
Was durch den schon erwähnten Streit zwischen ungarischen Lehrern und der Regierung inzwischen auch deutlich wird. Hintergrund des Ganzen: Die Regierung hat die kommunale Zuständigkeit für Schulen und die meisten eigenständigen Möglichkeiten von Schulen zur Ausgestaltung des Unterrichts abgeschafft, von der Wahlfreiheit bei Lehrbüchern bis hin zur Beschaffung des Unterrichtsmaterials.
Das von der Regierung gegründete „Klebelsberg-Zentrum“ beaufsichtige inzwischen alles, was mit Bildung zusammenhängt, sagt Emese Böröcz. „Das Institut entscheidet, welche Bücher für den Unterricht genutzt werden dürfen. Die Liste dafür ist inzwischen sehr klein geworden“, kritisiert sie und fügt hinzu: „Ich kann sehr gut verstehen, dass Lehrer und Eltern darüber sauer sind.“ Für die Regierung könnte das zu einem Problem werden, denn: „Unter denen, die protestieren, sind auch viele Fidesz-Wähler“, sagt Emese Böröcz.
Aber was ist der Hintergrund dieses bizarr anmutenden Streits? Geht es ums Geld? „Nein“, sagt die junge Ungarin, „es geht dabei um Macht.“ Das Klebelsberg-Zentrum sei von der Regierung geschaffen worden, und so werde versucht, deren Planungen auch gegen den Widerstand weiter Teile der Bevölkerung durchzusetzen.
Bildung, das wird nicht nur an diesem Beispiel deutlich, ist für Emese Böröcz ein wichtiger Punkt. „Hätte ich etwas zu sagen, würden die Themen Bildung und Gesundheit besonders groß geschrieben, weil beides ganz wichtig ist“, macht sie deutlich.
Sie selbst hat ihre Schulbildung auf einer Privatschule genossen. Am Thomas-Mann-Gymnasium, der Deutschen Schule in Budapest, hat sie das baden-württembergische Abitur abgelegt. Der Hang zum Deutschen stammt von ihren Eltern, die beide in Ungarn „in Firmen gearbeitet haben, in denen man auch oft Deutsch gesprochen hat“.
Auch beim Studium – Emese Böröcz hat in den USA, in Deutschland und in Ungarn studiert – und bei ihren Auslandsreisen haben sie die Eltern unterstützt. „Ich bin da privilegiert“, weiß sie und fügt aber hinzu, dass viele ungarische Eltern persönliche Abstriche machen würden, um ihren Kindern eine möglichst gute Ausbildung zu ermöglichen.
Als polyglotte Weltenbummlerin hält Emese Böröcz erwartungsgemäß wenig von der Abschottungspolitik Viktor Orbáns. Gleichwohl nimmt sie zur Kenntnis, dass der Ministerpräsident in dieser Frage den Rückhalt in der Bevölkerung hat. „75 Prozent der Ungarn unterstützen die Aussage der Regierung, bei einer europäischen Verteilung von Flüchtlingen nicht mitmachen zu wollen.“
Der Gedanke, „Fremde“ im Land zu haben, erschrecke die meisten ihrer Landsleute, sagt sie. „Für uns, die wir im Ausland studiert haben, und Erfahrungen mit Menschen aus allen Teilen der Welt gesammelt haben, ist Toleranz und ein internationales Umfeld hingegen normal“, beschreibt Emese Böröcz ihre Sicht.
Ob die Angst der Ungarn nun berechtigt ist oder nicht – die Flüchtlinge wollen doch gar nicht im Land bleiben, sondern in aller Regel nach Deutschland weiterreisen… Ja, stimmt sie zu – und dennoch habe die Regierung die Migrationskrisensituation ausgerufen, obwohl die dafür in einem Gesetz festgehaltenen Kriterien nicht erreicht seien. Die Regierung argumentiere, es sei besser, „früh Maßnahmen zu ergreifen, als sich später zu erschrecken“, sagt sie. Es werde eine Angst vor Flüchtlingen projiziert und damit das staatliche Handeln begründet.
Emese Böröcz kann sich nicht vorstellen, dass sich an der Haltung der ungarischen Regierung in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen etwas ändern wird, auch wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel noch immer auf eine gesamteuropäische Verteilung dringt. Drohgebärden von deutschen oder von EU-Politikern, man werde den aufnahmeunwilligen Mitgliedstaaten Unterstützungen kürzen, verfangen in Budapest nicht.
Kein Wunder, sagt die 26-Jährige. Zeige doch das Beispiel Polen, dass die Untersuchungen in Sachen Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit „nur schleppend anlaufen und dann wohl mit der Erteilung von Ratschlägen enden“. Die EU sei hier ein bisschen „wie ein Tiger ohne Zähne“.
Ist die EU also gescheitert? Nein, sagt Emese Böröcz sofort. „Sie hat eine Zukunft, sie muss eine Zukunft haben.“ Auch aus Sicht Ungarns. Die EU sei schließlich „eine Hand, die uns füttert“, sagt sie und fügt hinzu: „In diese Hand beißt man nicht.“ (hau/21.03.2016)