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Der Bundestag hat des 75. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion gedacht. In einer vereinbarten Debatte erinnerten die Abgeordneten am Mittwoch, 22. Juni 2016, an die 27 Millionen Soldaten und Zivilisten des Vielvölkerstaates, die dem Vernichtungs- und Eroberungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands zwischen 1941 und der deutschen Kapitulation im Jahre 1945 zum Opfer fielen.
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert sprach in seinen einleitenden Worten von einem „beispiellosen Vernichtungsfeldzug im Osten Europas, der in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie wurzelte“. Wenn heute an diesen Überfall erinnert werde, „bekräftigen wir unseren Willen, diese Lehren einer Geschichte, für die unser Land mehr Verantwortung trägt als alle anderen, gerecht werden zu wollen“.
Dazu gehöre, nirgends zu dulden, dass die Grundsätze von Frieden und Freiheit in Europa infrage gestellt werden, sagte Lammert auch mit Blick auf die Leitprinzipien der „Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, deren Schlussakte aus dem Jahre 1975 eine Lehre aus der „furchtbaren historischen Gewalterfahrungen vor 1945“ gewesen sei.
Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte, dass auch heute noch das Ausmaß des Leids der sowjetischen Bevölkerung nicht in Worte zu fassen sei. Angesichts der Spannungen zwischen Russland und der EU vor dem Hintergrund der russischen Annexion der Krim und des Konfliktes in der Ostukraine warnte Steinmeier vor einer drohenden Entfremdung: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Reflexe und Vorurteile aus längst vergangenen Zeiten wieder auferstehen als seien sie nie weg gewesen.“
Die Lehren aus dem 20. Jahrhundert zu ziehen, bedeute, sich eben nicht „in einer endlosen Spirale der Eskalation zu verlieren“, sondern immer wieder diplomatische Auswege aus der Konfrontation zu suchen: „So viel Verteidigungsbereitschaft wie nötig, so viel Dialog wie möglich – beide Säulen müssen stark sein“, sagte Steinmeier. Dauerhafte Sicherheit in Europa könne es nur mit und nicht gegen Russland geben. Das gelte auch umgekehrt für Russland in Bezug auf Europa.
Dr. Gregor Gysi (Die Linke) kritisierte, dass im Bundestag zwar eine vereinbarte Debatte, aber keine Gedenkstunde zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls vereinbart worden sei. Das Erinnern an das unermessliche Leid des von den Nationalsozialisten als „Unternehmen Barbarossa“ bezeichneten Vernichtungskrieges gegen Juden und „slawische Untermenschen“ in Osteuropa dürfe heute nicht abhängig gemacht werden von der Qualität der deutsch-russischen Beziehung.
Gysi warnte vor einem „Säbelrasseln“ der Nato mit Manövern nahe der russischen Grenze, an denen auch Soldaten der Bundeswehr teilnehmen würden. „Meinen Sie, es ist 75 Jahre danach das richtige Symbol, deutsche Soldaten dorthin zu entsenden?“
Jürgen Hardt (CDU/CSU) erinnerte an einen der wohl „brutalsten Feldzüge der Weltgeschichte“ und „tiefsten und dunkelsten Punkt“ der deutschen Geschichte. Jedes zweite Opfer des Zweiten Weltkrieges hätten die Völker der Sowjetunion zu beklagen gehabt. Es sei ihnen zu verdanken, dass sie diesen Angriff zurückgedrängt und damit wesentlich dazu beitragen hätten, Deutschland 1945 von der Naziherrschaft zu befreien.
Hardt erinnerte an die Lehre aus der Geschichte, die in Europa darin bestehen müsse, dass Konflikte friedlich zu lösen sind. „Leider hat Russland gegen diesen Grundsatz verstoßen“, sagte Hardt mit Blick auf die russische Annexion der Krim und den Ukraine-Konflikt. Von einem „Säbelrasseln“ der Nato als Antwort auf diesen Konflikt könne indes keine Rede sein, sondern von einer Rückversicherung der Bündnispartner, betonte Hardt. Die Hand des Verteidigungsbündnisses bleibe dennoch ausgestreckt, etwa mit dem Angebot, die Zusammenarbeit im Nato-Russland-Rat wieder aufzunehmen.
Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) erinnerte daran, dass dem „erklärten Vernichtungsfeldzug“ 1939 ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt vorausgegangenen war, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung Ost- und Mitteleuropas zwischen Berlin und Moskau vorsah. Dieser Aspekt begründe auch heute noch die Empfindlichkeit osteuropäischer Staaten.
Beck erinnerte zudem insbesondere an das Leid der rund fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, denen - als „Untermenschen“ entwürdigt - der Schutzstatus nach der Genfer Konvention versagt worden sei. Mehr als die Hälfte sei unter den KZ-ähnlichen Bedingungen in sogenannten „Russenlagern“ in Gefangenschaft gestorben. „Es ist an der Zeit, dass dieses schwere Unrecht als NS-Unrecht anerkannt wird“, sagte Beck. (ahe/22.06.2016)