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Ein Abgeordneter der DDR-Volkskammer betrachtet am 22.7.1990 eine Karte, auf der die fünf Bundesländer Ostdeutschlands verzeichnet sind. © dpa - Bildarchiv
Die Lage im Sommer 1990 war dramatisch: Die Wirtschaft der DDR befand sich im freien Fall, die Übersiedlungswelle in die Bundesrepublik war ungebrochen und die Rufe nach einer raschen Wiedervereinigung wurden in Ost wie West immer lauter. Keine leichte Aufgabe für die 409 Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer, mit den sich überschlagenden Ereignissen Schritt zu halten und die Transformation der DDR in einen demokratischen Rechtsstaat in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen.
Es war ein enormes Arbeitspensum, was sie dabei zu bewältigen hatten, Tagungen am Wochenende inklusive. Kein Wunder, dass Sitzungspräsident Dr. Reinhard Höppner (SPD), der den Volksvertretern am Morgen des 22. Juli 1990 im Palast der Republik eine umfangreiche Tagesordnung vorlegte, seine Kollegen mit den Worten begrüßte: "Ich denke, viele von uns, um nicht zu sagen, alle von uns werden urlaubsreif sein. Darum kann ich Ihnen jetzt eigentlich nur versprechen, wenn ich diese Tagung eröffnet haben werde und leite: Es wird nichts übers Knie gebrochen werden. Wir können alles ordentlich und in Ruhe bis zum Ende bedenken und verhandeln, und insofern sind auch voreilige Aufgeregtheiten nicht erforderlich."
In der Tat ging es an diesem Sonntag um eine weitreichende Entscheidung. Volker Schemmel (SPD), Berichterstatter des Ausschusses für Verfassung und Verwaltungsreform, sprach gar von einer "historischen Stunde" - sollte das ostdeutsche Parlament der Empfehlung seines Ausschusses folgen und dem Entwurf des Ländereinführungsgesetzes mit der nötigen Zweidrittelmehrheit zustimmen.
Er sah vor, die seit 1952 in der DDR bestehenden 14 Bezirke aufzulösen und stattdessen mit Wirkung vom 14. Oktober 1990 fünf Bundesländer zu errichten: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Ost-Berlin erhielt als Hauptstadt der DDR Landesbefugnisse, die von der Stadtverordnetenversammlung und vom Magistrat wahrgenommen werden.
Dabei ging es um mehr als die Etablierung eines föderalen Systems in der DDR. Mit der Angleichung an das staatliche Organisationsprinzip der Bundesrepublik, seit 1949 im Grundgesetz verfassungsrechtlich verankert, sollte ein weiterer Schritt hin zur Wiedervereinigung getan werden.
Doch nicht alle Abgeordneten konnten sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf anfreunden. Vor allem an der Frage der Ländergrenzen entzündete sich eine lebhafte Debatte. Denn in 15 grenznahen Kreisen hatte es zwar Bürgerbefragungen gegeben, in denen die Einwohner für oder gegen die geplante Zuordnung ihres jeweiligen Kreises zu einem der künftigen Bundesländer votieren konnten.
Doch waren lediglich zwölf Kreistage dem Mehrheitswillen ihrer Bevölkerung in dieser Sache gefolgt und hatten einen entsprechenden Antrag auf Zuordnung gestellt. Zwar betonte Schemmel in seiner Begründung der Beschlussempfehlung des Verfassungsausschusses, dass alle Kreistagsentscheidungen rechtmäßig seien, da es sich lediglich um Bürgerbefragungen und nicht um Volksentscheide gehandelt habe.
Dennoch musste er sich in der anschließenden Debatte Kritik gefallen lassen. So erhielt Dr. Dieter Gleisberg von den Liberalen viel Beifall, als er Schemmel fragte: "Herr Abgeordneter! Halten Sie es für demokratisch, wenn Volksbefragungen durchgeführt werden und dann in drei Fällen von den Kreistagen ignoriert werden?" Die Antwort Schemmels, der Ausschuss habe eindeutig festgelegt, "dass es rechtens ist, und was rechtens ist, dürfte wohl auch demokratisch sein", rief hingegen Widerspruch im Plenum hervor.
Auch der Hinweis Höppners, eine philosophische Debatte solle nicht angeschlossen werden, beendete die Diskussion zu diesem strittigen Punkt keineswegs. Im Gegenteil: Der Abgeordnete Peter Hildebrand (Bündnis 90/Die Grünen) stellte den Antrag, "dass in all den Fällen, wo der Kreistag anders entschieden hat, als es die Befragung der Bürger ergeben hatte, durch einen Volksentscheid aller in dem Territorium entschieden wird".
Da es zwei weitere Änderungsanträge zu anderen Bestimmungen des Gesetzentwurfs gab, so zum künftigen Status Berlins, wurde er schließlich in den Verfassungsausschuss zurückverwiesen.
Viel Zeit zur Beratung blieb diesem allerdings nicht, denn, so stellte Höppner klar: "Da wir zu dieser Sitzung zusammengekommen sind, um dieses Gesetz zu verabschieden, wird die Volkskammer so lange - um welche Unterbrechungen auch immer - zusammenbleiben, bis dieses Gesetz verabschiedet ist."
Und so geschah es dann auch: Noch am selben Tag stimmten mehr als zwei Drittel der Abgeordneten für das Ländereinführungsgesetz. Alle Änderungsanträge, auch der des Abgeordneten Hildebrand, wurden abgelehnt. Kritik daran gibt es bis heute.
"Die Zwänge des Einigungsprozesses, fehlende politische Praxis und die Euphorie des Wahlsieges ließen vor allem die Ost-CDU im Eifer des Gefechts, unter anderem in Fragen der Länderzugehörigkeit, für die nach dem Grundgesetz aus gutem Grund plebiszitäre Verfahren vorgeschrieben waren, Formen direkter Demokratie gänzlich ignorieren", meint etwa der Historiker Michael Richter. "Das schadete in den betroffenen Regionen der Herausbildung eines demokratischen Bewusstseins."
Insgesamt allerdings entsprach die Entscheidung, fünf neue Länder zu gründen, durchaus dem Mehrheitswillen der Bevölkerung. Frühere Pläne der Regierung, lediglich drei oder vier Bundesländer zu konstituieren, hatten einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen und waren deshalb rasch wieder ad acta gelegt worden - sehr zum Unmut von Manfred Preiß, dem zuständigen Minister für Regionale und Kommunale Angelegenheiten in Ost-Berlin.
Andererseits, so der Liberale in einem "Spiegel"-Interview vom 4. Juni 1990, sei es "ja auch erfreulich, dass die 40 Jahre Machtherrschaft der SED es nicht geschafft haben, das Heimatgefühl und das Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten Regionen aus den Köpfen der Menschen auszutreiben."
Mit der Entscheidung für das Ländereinführungsgesetz war der Weg frei für die Abstimmung über das Länderwahlgesetz, das noch am gleichen Tag ebenfalls mit großer Mehrheit angenommen wurde. Es schrieb unter anderem die Modalitäten der Landtagswahlen sowie die Anzahl der Abgeordneten in den fünf neuen Landesparlamenten fest.
Als Wahltermin wurde der 14. Oktober 1990 bestimmt. Durch den Einigungsvertrag vom 20. September 1990 wurde dann die Konstituierung der fünf neuen Bundesländer auf den 3. Oktober, den Tag der Wiedervereinigung, vorgezogen, die Landtagswahlen fanden wie vorgesehen am 14. Oktober 1990 statt. (nal)